Alice Miller || Die Revolte des Körpers

Das vierte Gebot verlangt von uns, unsere Eltern zu ehren und zu lieben, auf dass wir – so die versteckte Drohung – lange leben. Dieses Gebot der Ehr-Furcht beansprucht universelle Gültigkeit. Wer es befolgen will, obwohl er von seinen Eltern einst missachtet, misshandelt, missbraucht wurde, kann dies nur, wenn er seine wahren Emotionen verdrängt. Gegen diese seelische Verstümmelung und das Ignorieren von unbewältigten Kindheitstraumata revoltiert indes der Körper häufig mit schweren Erkrankungen. Wie diese entstehen, zeigt Alice Miller in diesem Werk: Die Revolte des Körpers handelt von dem Konflikt zwischen dem, was wir fühlen und was unser Körper registriert hat, und dem, was wir fühlen möchten, um den moralischen Normen zu entsprechen, die wir von jeher verinnerlicht haben.

Alice Miller schreibt in ihrem Buch „Die Revolte des Körpers“ über die Bedeutung des vierten Gebots für die Zielsetzung in der heutigen Psychotherapie. Nach Auffassung der Autorin wird in den vorherrschenden Therapieformen davon ausgegangen, dass das oberste Ziel die Versöhnung mit den Eltern sei. War die Kindheit noch so schlimm, wurde man misshandelt oder missbraucht, so solle man in der letzten Therapiestunde dennoch dazu bereit sein, seinen Eltern zu verzeihen und Liebe oder mindestens Respekt für sie zu empfinden. Nur so könne man von einer erfolgreichen Behandlung sprechen.Die Schweizer Psychoanalytikerin wollte damit nicht länger konform gehen und gab ihre Arbeit nach zwanzig Jahren auf, um die Öffentlichkeit mit den Ergebnissen ihrer eigenen Kindheitsforschung zu konfrontieren.
Sie stellt sich gegen die Verleugnung der Gefühle, die das Resultat leidlicher Kindheitserfahrung darstellen, und möchte misshandelte Opfer ermutigen, die wahren Empfindungen nicht länger Zugunsten einer verinnerlichten, aber unreflektierten Norm zu unterdrücken.
Alice Miller beschreibt in ihrem Buch, dass sie selbst Miller selbst vierzig Jahre benötigte, um verdrängte Erinnerungen an Misshandlungen aufzuarbeiten. Sie löste sich von der traditionellen Moral, der sie nicht entsprechen konnte, und den damit verbundenen Schuldgefühlen.

Alice Miller – Revolte des Körpers | suhrkamp verlag

Neben den eigenen Erfahrungen bezieht sich Miller auf Briefe, Biografien und Berichte anderer Opfer, deren Geschichte mit ihrer Theorie übereinstimmen: Dostojewski, Franz Kafka, Virginia Woolf und Marcel Proust – sie alle verbindet nicht nur die Schriftstellerei, sondern auch eine schwierige Beziehung zu ihren Eltern. So zeugen Berichte über Dostojewskis Vater von maßloser Brutalität, und Proust war ein von seiner dominierenden und beherrschenden Mutter verängstigter Junge, der immer um ihre Zuneigung bangte. Kafka litt sein ganzes Leben unter der Furcht vor seinem Vater und Woolf wurde von ihren Halbbrüdern sexuell missbraucht, ohne Hilfe von ihren Eltern zu bekommen. Sie alle teilten das gleiche Schicksal: Entweder sie starben früh an einer Krankheit oder nahmen sich selbst das Leben.
Anhand dieser (auto)biographischen Fakten verdeutlicht Miller ihre Theorie: Der unbewusste, also tief verankerte Versuch dem christlichen Gebot Folge zu leisten und damit über die Grausamkeiten in der Kindheit hinwegzusehen, hieße nichts anderes als Traumata zu ignorieren. Zwar könne man oberflächlich positive Gefühle für die Eltern entwickeln, doch der Körper könne die Erfahrungen nicht verdrängen. Er habe sie registriert, gespeichert und wehre sich. Der Mensch wird krank – die Revolte des Körpers.

Immer wieder macht sie auf die Gefahren aufmerksam, die eine Unterwerfung unter die Diktatur der Moral in sich bergen. So widmet Miller sich in einem nur vierseitigen Abschnitt dem Phänomen der Serienmörder und geht speziell auf die Biografie von Patrice Alègre ein, der mehrere Frauen vergewaltigt und erwürgt hat. Auch hier finden wir eine schlimme Kindheitsgeschichte mit einem gewalttätigen Vater und einer Prostituierten als Mutter, die mit ihrem Sohn nicht nur Inzest beging, sondern ihn auch als Wächter vor der Tür positionierte, wenn sie Kundschaft empfing. Für die Psychoanalytikerin ist der Fall klar: Die Verwirrung, die das sexuelle Verhalten der Mutter auf Alègre bewirkt, löst in dem Jungen den Wunsch aus, seine Mutter, während sie beim Verkehr stöhnt, zu töten. Da er aber den eigentlichen Hass unterdrückt und meint, sie zu lieben, ermodert er an ihrer Stelle andere Frauen.

Millers Argumentation lebt von einer plausiblen Logik, die sich auf alle ihre zahllosen Beispiele anwenden lässt. An scheinbar zu vielen Fällen lassen sich die Konsequenzen aufzeigen, die das Halten an das vierte Gebot mit sich bringt. Es ist wohl das Unkomplizierte, das Zweifel an Millers Theorie aufkommen lässt.
Gleichzeitig beweist die Analytikerin jedoch mit ihren zahlreichen Veröffentlichungen und ihrer langjährigen Forschungsarbeit ihre Unabhängigkeit von traditionellen Normen, indem sie ein altbewährtes System hinterfragt, sich mit einer klaren Begründung dagegen wendet und ihm eine nachvollziehbare und interessante Alternative entgegenstellt. Es ist lohnend, sich mit dieser neuartigen Sichtweise zu beschäftigen, zumal Miller sehr darauf bedacht ist, eine leicht verständliche Sprache zu verwenden. Denn nicht zuletzt ist es ihr Ziel, die Gesellschaft und damit auch Opfer aufzurütteln und für das Problem des vierten Gebots zu sensibilisieren.

Mein Fazit || Dieses Buch ist eine gute Anregung zur Selbstreflexion, ein „Leitfaden“ zum Hinterfragen der eigenen Therapieverläufe.
Wenn der Körper wirklich ein Schlüssel in der Verarbeitung verschiedener Traumata ist, wundert die Frage kaum, warum unser Gesundheitssystem so starr daran festhält, den Patienten in seienr Rolle als Opfer zu bestätigen und den teils grausamen Handlungen der Patienteneltern so die Absolution erteilt.

Die Autorin || Alice Miller wurde am 12. Januar 1923 in Polen geboren. Sie studierte in Basel Philosophie, Psychologie und Soziologie. Nach der Promotion machte sie in Zürich ihre Ausbildung zur Psychoanalytikerin und übte 20 Jahre lang diesen Beruf aus. 1980 gab sie ihre Praxis und Lehrtätigkeit auf, um zu schreiben. Seitdem veröffentlichte sie 13 Bücher, in denen sie die breite Öffentlichkeit mit den Ergebnissen ihrer Kindheitsforschungen bekannt machte. Sie verstand ihre Suche nach der Realität der Kindheit als einen scharfen Gegensatz zur Psychoanalyse, die in der alten Tradition das Kind beschuldigt und die Eltern schont. Alice Miller ist am 14. April 2010 im Alter von 87 Jahren verstorben.

suhrkamp taschenbuch 3743
Taschenbuch, 205 Seiten
Erschienen: 2005
ISBN: 978-3-518-45743-6