Der Versuch einer sprachlichen Analyse. Versuch deshalb, weil ich das Gedicht nicht verstehe.
Die alten Götter sind tot.
In diesen Tagen
haben wir ihre Bilder zerschlagen
und künden laut ein neues Gebot.
Volk du bist groß
und unbegreiflich in deinem Tun.
Volk, dein Schoß
läßt die Kinder der Zukunft los.
Söhne der Lüge, Söhne der Wahrheit.
Brüder im Irrtum, Brüder in Klarheit
wirren um dich in buntem Schwarm.
Alle liegen in deinem Arm
und wollen an deinem Herzen ruhn,
Mutter!
Ewig junges Angesicht
kehrst du nach der Erde hin.
Große Allgebärerin,
du stirbst nicht.
Du bist unsres Lebens Leben,
Volk, und unser tiefster Wurzelgrund.
Jeder Hauch ist dir ergeben,
jede Hand beschwöre neu den Bund.
Tod ist Irrtum, Sterben Trug,
was da lebt, ist schon gewesen.
Immer hebt zu neuem Flug
sich der Geist und will in Sternen lesen.
Einmal müssen wir genesen,
und aus aller Wirrnis uns befrein.
Volk, dann wirst du erst geboren sein,
wirst dein eignes Antlitz kennen
und dich mit dem wahren Namen nennen.
Mächtig schwillt das Beten, Rufen, Schrein:
Geburt, Geburt
Ein Gedicht zwischen Mystik und Unschärfe
Ohne historischen Kontext wirkt das Gedicht wie ein rätselhafter Hymnus, der mit abstrakten Bildern und pathetischen Wiederholungen arbeitet. Eine rein sprachliche Analyse zeigt:
Unklare Subjekte – Wer spricht? Wer handelt?
- „Die alten Götter sind tot“: Wer sind diese Götter? Religion? Tradition? Autoritäten?
- „Wir“ („haben wir ihre Bilder zerschlagen“): Eine anonyme Gruppe – Revolutionäre? Das Volk? Eine Sekte?
- „Volk“: Mal als „Mutter“, mal als „du“, mal als „Allgebärerin“ bezeichnet. Ist es eine konkrete Gemeinschaft oder ein mythologisches Wesen?
→ Effekt: Der Leser bleibt distanziert. Das „Wir“ schließt nicht ein, sondern wirkt wie ein geheimnisvoller Kult.
Widersprüchliche Metaphern
Das Gedicht vermischt biologische, religiöse und kosmische Bilder:
- Biologisch: „Schoß“, „Geburt“, „Mutter“ (als ob das Volk ein gebärender Organismus wäre).
- Religiös: „Götter“, „Gebot“, „Bund“ (wie eine neue Offenbarung).
- Kosmisch: „Sternen“, „Geist“, „ewig“ (transzendente Aufladung).
→ Problem: Die Metaphern erklären nichts, sondern beschwören nur Stimmung.
Paradoxe Aussagen
- „Tod ist Irrtum, Sterben Trug“: Eine absolute Behauptung ohne Begründung.
- „was da lebt, ist schon gewesen“: Klingt wie ein Zyklusgedanke (Wiedergeburt?), bleibt aber vage.
- „Volk, dann wirst du erst geboren sein“: Wie kann etwas, das schon „Mutter“ ist, erst noch geboren werden?
→ Wirkung: Es entsteht ein Schein-Tiefgang – die Sprache suggeriert Bedeutung, ohne sie klar zu machen.
Sprachrhythmus: Ekstatisch, aber inhaltsleer?
- Wiederholungen („Geburt, Geburt!“) wirken wie ein Beschwörungsritual.
- Imperative („kehrst du“, „beschwöre neu“) fordern Aktivität, sagen aber nicht, wie.
- Keine konkreten Handlungen, nur Zustände („wirren um dich“, „liegen in deinem Arm“).
→ Fazit: Das Gedicht emotionalisiert, aber es erklärt nicht.
Versuch einer „Übersetzung“ ins Konkrete
Fragt man: „Wovon spricht dieses Gedicht wirklich?“, könnte man es so paraphrasieren:
„Es gibt eine unsichtbare Kraft (das Volk), die alles hervorbringt – auch Widersprüche (Lüge/Wahrheit). Sie ist ewig, aber erst in der Zukunft wird sie sich selbst erkennen. Alles Sterben ist nur Schein, denn das Leben wiederholt sich. Vertraut dieser Kraft!“
Aber selbst diese Deutung bleibt spekulativ.
Warum ist das Gedicht so schwer verständlich?
- Es fehlen Ankerpunkte: Keine konkreten Orte, Personen oder Handlungen.
- Die Pronomen (wir, du, Volk) sind schwammig: Wer ist gemeint?
- Die Bilder widersprechen sich: Wie kann das Volk gleichzeitig „Mutter“ und „ungeboren“ sein?
Sprachliches Fazit: Ein Gedicht wie ein Nebelwand
Brögers Text ist keine klare Botschaft, sondern ein Stimmungsgemälde. Seine Kraft liegt nicht in präziser Aussage, sondern im Rhythmus, im Pathos, im Gefühl des Aufbruchs.
Für heutige Lesende:
- Man kann ihn als sprachliches Experiment lesen – wie ein Musikstück ohne Textverständnis.
- Oder als Beispiel dafür, wie Sprache Emotionen weckt, ohne Inhalt zu liefern.
Frage zum Mitdenken:
Gibt es moderne Texte (Lieder, Gedichte, Reden), die ähnlich vage bleiben – aber trotzdem wirken?
Kurzum: Das Gedicht ist wie ein Rorschach-Test – man sieht darin, was man sucht. Seine Unschärfe macht es anfällig für Projektionen – damals wie heute.
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