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Britta Bolt | Das Büro der einsamen Toten

Gr ist kein Polizist, kein Privatdetektiv – und trotzdem dreht sich in seinem Leben alles um den Tod. Im „Büro der einsamen Toten“ bei der Stadt Amsterdam kümmert sich Pieter Posthumus um die einsamen Toten – Menschen ohne Angehörige, Menschen, die keiner vermisst – und richtet ihnen ein würdiges Begräbnis aus, mit Musik und Gedichten. Bei seinen Recherchen stößt er auf so manche Ungereimtheit. In der Prinsengracht ist die Leiche eines jungen Mannes gefunden worden. Die Umstände seines Todes sind mysteriös. Posthumus nimmt auf eigene Faust die Ermittlungen auf und gerät in ein Netz von Intrigen.

Rezension || Um namenlose Tote in Amsterdam kümmert sich nach uralter Tradition die Stadt; sie richtet ihnen ein würdiges Begräbnis aus, bei dem es Kaffee, Blumen und ein Gedicht gibt. Soweit die Realität. Britta Bolt hat das zuständige Büro in ihrem Roman kurzerhand „Amt für Katastrophenschutz und Bestattungen“ getauft. Dort arbeitet Pieter Posthumus als einer der drei Beamten, die sich um nicht identifizierte Tote kümmern. Eigentlich bedeutet das neben einer Wohnungsbegehung nur Papierkram, um eventuelle Verwandte ausfindig zu machen, Sterbeversicherungen zu finden und im besten Fall das Begräbnis in die Hände der Familie zu geben. Posthumus jedoch ist ein Typ, der sich oft in das Leben der Toten hineinversetzen will und sich Fragen zu ihrem Tod stellt. Bei einem Toten, der sich in einer Mansarde erhängt hat, findet er zum Beispiel Gedichte und will damit die Trauerrede gestalten. Für seine Kollegen sind solche Ideen albernes und überflüssiges Dekor, für Posthumus ein Stück der letzten Würde. Eines Tages muss er sich um die Leiche eines jungen Marokkaners kümmern, der in einer Gracht gefunden wurde. Dadurch lernt er die Familie Tahiri kennen, mit denen der Tote bekannt war. Vater Tahiri kommt der Tod ein wenig merkwürdig vor und Posthumus verspricht ihm, ein bisschen zu recherchieren.

Britta Bolt: Das Büro der einsamen Toten – Copyright Hoffmann und Campe Verlag

Parallel zu Posthumus‘ Arbeit lernt der Leser Onno Veldhuizen kennen, seines Zeichens Abteilungsleiter der Sektion Staatsschutz, sowie seine Teamleiterin Lisette Lammers. Lammers beobachtet die so genannte Amsterdamer Zelle, eine Gruppe hauptsächlich junger Marokkaner, die der Verschwörung und der Planung eines terroristischen Anschlags verdächtigt werden. Während der Staatsschutz sein übliches Programm aus Abhörtechnik und Observation auspackt, erhält Posthumus unverhofft Unterstützung von einer längst verloren geglaubten Familienbande: Seine Nichte Merel Dekkers meldet sich nach langjähriger Sendepause bei ihm. Dekkers ist Journalistin und derzeit mit vielen Artikeln über den Islam betraut.

Familie Tahiri wird zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, bei der Posthumus‘ Fragen und die Ermittlungen des Staatsschutzes immer wieder angreifen. Aus so einem Setting könnte man einen wahnsinnig schnellen Thriller stricken und Posthumus gegen Veldhuizen durch Amsterdam jagen. Dann wäre das Buch auch spannend, aber nur halb so gut. Denn Britta Bolt schaut ihren Protagonisten nicht nur auf die Finger, sondern auch ins Herz. Was dabei herauskommt ist ein Roman, der viele Facetten zu religiösen Strömungen aufgreift und diese unaufgeregt und gelassen thematisiert.

Es ist mehr als nur der Einblick in eine muslimische Familie. Es ist auch eine Perspektive auf Immigranten, deren Kinder die Herkunft ihrer Eltern entdecken und die eigene Präsenz inmitten von zwei Kulturen ganz anders wahrnehmen. Vater Mohammed hat der Familie in den Niederlanden ein neues und gutes Leben aufgebaut, sich so weit wie möglich integriert. Seine Kinder emanzipieren sich vom Anpassungswillen ihrer Eltern und definieren ihre Traditionen neu. Die Tochter wählt den Schleier und wirft der Mutter ein Mangel an eigener Kultur vor, der Sohn Najib trägt eine Djellaba, meidet den Kontakt zur Familie und surft stundenlang im Internet. Alleine diese Diskrepanzen sind schon genug Stoff, um zwei Generationen hart aufeinander prallen zu lassen. Najibs religiöse Interessen lassen ihn allerdings ins Licht von Veldhuizens Ermittlungen rücken.

Posthumus entdeckt während seiner Recherchen auch das Schicksal des Toten aus der Gracht, ein entfernter Cousin der Tahiris. Mit ihm und Onno Veldhuizen lässt Britta Bolt politische Hintergründe ins Spiel kommen, die auf eine ganz andere Art und Weise erschreckend sind als nur diehier bekannte Gefahr durch Jihadisten. Auch, wenn der Start der Posthumus-Trilogie sehr viel ruhiger ist als ein wütender Krimi von Dominique Manotti, steckt auch in Britta Bolts Buch ein Stück weit politische Literatur. Ließe sich das überhaupt vermeiden, wenn hinter Britta Bolt eine auf Menschenrechte, internationales Recht und politische Prozesse spezialisierte Anwältin sowie ein Schriftsteller stehen, der unter anderem ein Theaterstück gegen Apartheid auf die Bühne gebracht hat?

Posthumus findet heraus, was seine zunächst namenlosen Toten für ein Schicksal hatten. Doch er ist „Beamter, kein Detektiv“, und so liefert das Ende perfektes Futter, um die Geschichte auch bei zugeschlagenem Buch weiter arbeiten zu lassen.

Britta Bolt || DAS BÜRO DER EINSAMEN TOTEN
ISBN:978-3-455-40528-6
Seiten: 384
Erscheinungsdatum:11.03.2015
Übersetzung: Kathleen Mallett, Heike Schlatterer