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Woman's Medical College of Pennsylvania, 1885: - Dr. Anandabai Joshee, Seranisore, Indien. - Dr. Kai Okami, Tokio, Japan. - Dr. Tabat M. Islambooly, Damascus, Syrien. Alle drei absolvierten ihre medizinische Ausbildung und jede von ihnen wurde damit die erste Frau aus ihren jeweiligen Ländern, die einen Abschluss in der westlichen Medizin erwarb (Fotografie aus der Sammlung

Franziska Tiburtius || Ärztin und Kämpferin für das Frauenstudium

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ine sehr große, ein wenig knorrige Dame, etwa dreißig Jahre alt, stieg in Zürich aus dem Zug, der von Norden einrollte. Sehr sicher, so als wäre sie fremde Länder und fremde Städte gewöhnt, trat sie aus dem Portal und blickte sich um, erwartungsvoll und heiter. Mit einem Blick umfasste sie den Kranz der Berge, die blühenden Bäume, die alten Gebäude. Das war im Jahre 1871 leicht, Zürich war damals eine Stadt, die noch die Landschaft in sich einbezog, nicht (so wie heute) verschluckte. 

Die Dame fragte eine Passantin nach dem Stapferweg. Sie musste zweimal fragen; denn der pommersche Klang ihrer Sprache ging dem Ohr der Schweizerin nicht so schnell ein. „Jo gärn!“ Nun hatte sie verstanden und wies ihr den gewünschten Weg. In dem Haus Stapferweg 14 stellte sich die Deutsche vor. Sie sei Franziska Tiburtius und würde gern Fräulein Berlinerblau besuchen. Wieder hieß es freundlich: „Jo gärn!“ Franziska Tiburtius wurde die Treppe hinauf in ein Zimmer gewiesen.

Franziska Tiburtius

Nicht nur das Fräulein Berlinerblau, sondern „vier weibliche Wesen“, wie sie selbst in ihren Erinnerungen schreibt, saßen um den Tisch. Für die norddeutsche Gutsbesitzerstochter von der Insel Rügen waren sie alle ein wenig seltsam anzusehen, diese Jüdinnen aus Südrussland. Man begrüßte die Fremde freundschaftlich, wie es damals unter den wenigen weiblichen Studenten üblich war. Man half sich untereinander. Auf dem Tisch in der Mitte, statt einer Blumenschale, prangte ein Totenschädel, und Fräulein Berlinerblau, zu der Franziska Tiburtius mit einem Brief gewiesen worden war, machte sogleich auf dem Sofa für sie Platz, indem sie ein Skelett, das dort lehnte, ein wenig zur Seite rückte.
„Bitte setzen Sie sich, zwei Menschen und ein Skelett haben gut auf diesem Sofa Platz.“

Sie setzte sich, indem sie einen herabhängenden Skelettarm noch ein Stückchen mehr ins Sofakissen drückte. So ging es gut. Neben dem Schädel stand der Samowar, aus dem nach russischer Sitte pausenlos Tee aufgegossen wurde. Außerdem rauchten die Russinnen ebenso eifrig, wie sie tranken. Zu essen gab es nichts. Sehr bald fand sich die zukünftige Studentin behaglich in dem sonst so fremden Kreis; denn das gleiche Ziel, die gleiche Hilfsbereitschaft und die gleichen Hindernisse verbanden sie untereinander. Die großen Altersunterschiede schienen keine Rolle zu spielen: hier war die Jüngste neunzehn Jahre und die Älteste vierzig Jahre alt.

Zwei Studentinnen dieser Tischrunde hatten schon, wie Franziska Tiburtius, in anderen Berufen gestanden; eine von ihnen, eine Witwe aus Charkow, studierte, um ihre beiden Kinder später versorgen zu können.Hier also bekam Franziska Tiburtius ihre ersten Verhaltensmaßregeln als Studentin. An dem von diesen Russinnen empfohlenen Mittagstisch im Speiselokal freilich fühlte sie sich fremd. Da ging es wohl für einen Nichtrussen zu russisch her. Dort trafen sie die vielen Russen, die in Zürich studierten, meist Anarchisten — Revolutionäre — Weltverbesserer.

Die Frauen, „Kosakenpferdchen“ genannt, trugen alle aus unerfindlichen Gründen blaue Brillen und schwarzgelackte Matrosenhüte, und Männer wie Frauen zeichneten sich durch unordentliche Kleidung, schmutzige Finger, ungepflegte Haare und schlechte Manieren aus. Diese Studentinnen waren es auch wohl, die die Anerkennung des Frauenstudiums so erschwerten. Nur ein Teil übrigens studierte, die meisten versanken in Nihilismus und waren dauernd wie auch die Männer in politische Konspirationen verwickelt, die bis zu Schießereien ausarteten.
Schließlich fand Franziska Tiburtius sogar ein nettes Zimmer. Das war nicht leicht gewesen. Meist war ihr schon an der Haustür gesagt worden: „Bedaure, wir vermieten nur an Herren.“ Bei „Jungfer Kägi“ aber in der Hintergasse 3 blieb sie gut aufgehoben, zusammen mit ihrer Studienkameradin und späteren Freundin Berlinerblau, die das zweite Zimmer gemietet hatte. Nun schien alles in Ordnung. Immatrikuliert war man. Das Studium konnte beginnen. Es war nicht immer einfach. Der erste Auftritt im Präpariersaal zeigte die andere Seite. Franziska Tiburtius ging mit einer Kommilitonin zum Präpariersaal. Für einen ganz jungen Medizinstudenten sind das immer ein Raum und eine Arbeit, an die er sich erst gewöhnen muss.

Die beiden Frauen traten ein, weiße Schürzen über dem Arm und das benötigte Handwerkszeug in der Hand. Zu ihrer Verwunderung war der Raum so dicht gefüllt, dass von den zu präparierenden Leichen nichts zu sehen war. Schnell fanden sich die beiden Studentinnen von einer grölenden, pfeifenden Masse Studenten umringt. Nicht nur von Medizinern, auch aus den anderen Fakultäten hatte man sich Hilfe geholt, um diese beiden weiblichen Eindringlinge aus einem nur männlichen Bereich zu vertreiben.

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rschrocken blieben die Frauen auf der Schwelle stehen, bis einer der Studenten sie freundlich zu dem kleinen Nebenraum wies: „Bitte, meine Damen, hier ist der Raum, wo man seine Sachen lässt. Diese Fächer sind für die Geräte, und hier an den Haken kommen die Schürzen. Jeder hat seinen Platz für sich. Suchen Sie sich bitte aus.“ Die beiden banden ihre Schürzen um und suchten sich zwei Fächer für die Sezierbestecke.
„Endlich haben sie sich beruhigt“, meinte Franziska Tiburtius, „sie werden sich an uns gewöhnen müssen.“ Doch so schnell gewöhnten sie sich nicht an. Als die Studentinnen den Raum verlassen wollten, entdeckten sie, dass man sie eingeschlossen hatte. Ein wieherndes und spöttisches Lachen quittierte ihren Versuch, die Klinke herunterzudrücken. Die beiden verhielten sich still. Sie schauten sich an, und einen Augenblick mag Franziska Tiburtius an ihren Aufenthalt in England gedacht haben, wo man sie als Erzieherin immer respektiert hatte. Wie sollte das nun weitergehen? Hüben und drüben schwere Stille, die sich bedrückend auf die beiden Eingeschlossenen legte. Da kam der Professor selbst. Sie hörten seine ruhigen, bestimmten Worte durch die Tür. Dann öffnete ein junger Pole, mit der Höflichkeit, die seine Nation auszeichnet, die verschlossene Türe, verbeugte sich und ließ die beiden Frauen heraus.

„Es soll nicht wieder vorkommen“, sagte der Assistent; „die Demonstration richtete sich nicht gegen Sie persönlich, sondern gegen das Frauenstudium überhaupt.“Das wussten die Studentinnen. Dieser Vorfall wiederholte sich wirklich nicht mehr. Das Verhalten der jungen Männer ihren Kommilitoninnen gegenüber war nicht zum Verwundern; denn ein Teil der Hochschulprofessoren, auch in der Schweiz, lehnte das Studium von Frauen ab, und es gab einen damals berühmten Wissenschaftler, der die These aufstellte, dass die Frau zum Studium ungeeignet sei, weil ihr Gehirn weniger als das des Mannes wiege und sie deshalb weniger Verstand besitze. Alle Universitäten in Europa außer Zürich weigerten sich in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, Frauen zum Studium zuzulassen; um so weiterschauend müssen die wenigen Professoren gewesen sein, die einem wissenschaftlichen Beruf der Frauen positiv gegenübergestanden haben. Zu ihnen gehörte der berühmte Anatom Professor Meyer, eben der, der die beiden Frauen aus dem Umkleideraum des Seziersaales befreien ließ. Franziska Tiburtius blieb drei Jahre bei Jungfer „Kägi“, dann wurde ihr Idyll zu aller Leidwesen zerstört. Die zum Arbeiten dringend notwendige Ruhe raubten die neuen Nachbarinnen: Kosakenpferdchen! Die Russinnen lärmten und diskutierten jede Nacht bis weit in den Morgen hinein mit ihren Freunden.

Diese Genossen nun störten Franziska Tiburtius beim Arbeiten. Da, eines Nachts, als der Lärm wieder einmal nicht enden wollte und die russischen Laute, der vaterländische Gesang in ihr Zimmer dröhnte, als wäre keine Wand dazwischen, sprang sie aus dem Bett, klappte das Klavier auf, ein altes, ungestimmtes Instrument, und trommelte — ihre Klavierkenntnisse waren nicht bedeutend — einen (wir würden heute sagen) Schlager nach dem anderen herunter. Wenn sie keinen neuen wusste, so fing sie wieder von vorn an. Und sie wurden drüben wirklich still. Als es drei Uhr vom Münstertum schlug, hörte sie auf, um sich endlich zur Ruhe zu begeben. Die Pommerin aber hatte nicht mit den Russen gerechnet. Man hämmerte mit den Fäusten an die Wand und bat sie beschwörend, doch weiterzuspielen. Es sei so herrlich gewesen. Daraufhin zog sie am nächsten Ersten aus. Jahre später war Franziska Tiburtius eine viel gesuchte Ärztin in Berlin. Jedoch war es ihr nicht gelungen, ihre Approbation als Ärztin in Preußen zu erreichen. Wer in Zürich das Examen gemacht hatte, wurde in Preußen nicht anerkannt, aber in Preußen durfte immer noch keine Frau studieren. Doch erlaubte man ihr die Ausübung der Praxis, und wer das Risiko auf sich nehmen wollte, sich von einer in Deutschland nicht approbierten Ärztin behandeln zu lassen, der sollte es tun. Dieses „Risiko“ nahmen viele auf sich. Der Zustrom zu Dr. med. Tiburtius war groß, und alles ging gut. Bis eines Tages plötzlich ein Gerichtsdiener an der Haustür klingelte. Er war kein Patient, sondern er gab nur eine Aufforderung ab, in der es hieß, dass Fräulein Doktor sich wegen unbefugter Führung des medizinischen Doktortitels zu verantworten habe. Fräulein Doktor Tiburtius erschien also vor dem Gericht, die Diplomrolle unter dem Arm.

Der Vorsitzende: „Fräulein Angeklagte, Sie müssen sich wegen der Führung falscher Titel verantworten. Bei uns liegt eine anonyme Denunziation vor!“ „Anonym? “ „Ja. Anonym.“  „Vielleicht ein junger Kollege“, meinte Dr. Tiburtius, „der die Sachlage nicht kennt.“ Der Vorsitzende nickte nur. Er fand die Ansicht der Ärztin sehr fair. Unkenntnis? Könnte man das nicht auch Futterneid nennen? „Aber schließlich konnte das Schild zu Verwechslungen führen“, schaltete sich der Staatsanwalt ein; „selbst wenn nur Dr. und nicht praktischer Arzt dort steht, so könnte man das aber annehmen. Ich beantrage 3 Mark Konventionalstrafe.“ Die Schöffen, meist tüchtige Handwerker, lasen sich das Diplom genau durch. Auch der Vorsitzende. Nach einer kurzen Beratung erkannte man auf Freispruch. Um Irrtümer künftig zu vermeiden, sollte von nun an auf dem Schild folgender Titel stehen: Franziska Tiburtius, Dr. med. der Universität Zürich.

Da stand nun an der Hauswand für jeden deutlich zu lesen, die Ärztin kam aus Zürich. Der Erfolg war überraschend: die Patientenzahl wuchs noch beträchtlich, sie strömten geradezu in die Sprechstunde, und ein Patient verriet das Geheimnis: „Fräulein Doktor, Sie müssen ja wohl etwas ganz großes geworden sein. Mit dem langen Titel auf dem Schild, kein anderer hat den — in ganz Berlin nicht.“
Dr. med. Tiburtius hat den Weg für das Frauenstudium gebahnt. Ihre Tüchtigkeit und ihre redliche Arbeit, ihre Energie und ihr Fleiß haben damit der gesamten Wissenschaft neue Kräfte zugeführt: nämlich die Geistesgaben der Frau. Sie wurde 1843 als Tochter eines Gutsbesitzers auf der Insel Rügen geboren. Sie wuchs in einem großen Geschwisterkreis fröhlich auf. Die Mutter war eine Pastorentochter aus der Nachbarschaft. Franziska besuchte die höhere Mädchenschule in Stralsund, und wie es damals für ein Mädchen üblich war, das sich sein Brot selbst verdienen musste, wurde sie Erzieherin.

Mit 17 Jahren trat sie ihre erste Stelle bei einer pommerschen Großgrundbesitzerfamilie an. Erst als sie 30 Jahre alt war und schon einige Zeit als deutsche Erzieherin in London und in einem englischen Pastorenhaus auf dem Lande gearbeitet hatte, reifte ihr Entschluss, Medizin zu studieren, angeregt durch ihren Bruder, der auch Arzt war. Weil keine Frau in Deutschland studieren durfte, ging sie nach Zürich. Sie machte dort ihre ärztliche Prüfung und wurde eine tüchtige Ärztin. Jahrzehntelang unterhielt sie eine Praxis in Berlin mit ihrem Bruder zusammen und dessen Frau, die damals die erste Zahnärztin der Welt war und, um das zu werden, nach Amerika hatte reisen müssen.

Franziska Tiburtius starb 1927. 

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Zum Titelfoto || Es zeigt drei Absolventinnen des Woman’s Medical College of Pennsylvania, 1885:
– Dr. Anandabai Joshee, Seranisore, Indien.
– Dr. Kai Okami, Tokio, Japan.
– Dr. Tabat M. Islambooly, Damascus, Syrien.
Alle drei absolvierten ihre medizinische Ausbildung und jede von ihnen wurde damit die erste Frau aus ihren jeweiligen Ländern, die einen Abschluss in der westlichen Medizin erwarb (Fotografie aus der Sammlung 

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