Die junge Lehrerin Elena Vizzini tritt ihre neue Stelle an, im kleinen sizilianischen Dorf Montenero Valdemone, fünftausend gemeldete Einwohner. Die Großstädterin hatte sich einen anderen Einsatzort gewünscht, hat aber keine Wahl, will sie doch endlich als Lehrerin arbeiten. Der Rechtsanwalt Bellocampo stellt ihr die Bleibe zur Verfügung, ein kaltes, unwohnliches Zimmer, das einst seiner Schwester gehört hatte.
Das Dorf reagiert auf den Fremdkörper Elena mit Distanz und Tuschelei. Nur ein Zugereister wagt es, sie überhaupt anzusprechen, äußerst dreist obendrein. Wer auf der Straße ist, erlebt, wie sich Elena gegen das aufdringliche Großmaul zur Wehr setzt, doch niemand hilft ihr. Wütend und aufgebracht über die stumpfen Dorfbewohner verkriecht sich Elena auf ihr Zimmer. Am nächsten Morgen sitzt eben jener junge Mann tot auf einem Stuhl auf der Piazza.
„So standen die Leute ordentlich und schweigend im Kreis herum. Die älteren Herren hatten sich aus dem Vereinslokal oder einer der Bars einen Stuhl geholt und saßen dicht an dicht.“
Doch das Schweigen geht weiter. Elena wird von der Polizei vernommen, die mit der Sache ebenso wenig anfangen kann wie Elena. Immerhin, ein alter Bauer erklärt sich bereit, der Polizei das Symbol der Blume im Mund des Toten zu erklären: Er habe eine Blume beleidigt, die Blume habe ihn daraufhin getötet. Mehr dazu gibt es nicht zu sagen.
„Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, dass von vierzig Personen, die wir dazu befragt haben, nicht eine einzige die von ihnen behaupteten Ereignisse bestätigt hat. Niemand hat bemerkt, dass Calògero Villarà Ihnen nachgelaufen ist und Sie belästigt hat. Genau gesagt, hat man auch Sie nicht gesehen und weiß nicht, wer Sie sind oder wie Sie heißen. Sie existieren nicht, und es hat nichts stattgefunden.“
Ab diesem Zeitpunkt wird Elena zur Respektsperson; an ihrer machtvollen Aura spinnt derweil ein Unbekannter weiter, der Elenas Ansehen offenbar nach Belieben bei den Leuten verankern kann. Wegen ihr wird ein Reporter verprügelt, zwei weitere Menschen sterben, nachdem sie Elena angegriffen haben. Das Dorf wird gespenstisch, so wortlos und stumm, wie die Leute mit den Gewalttaten umgehen. Elena kann ihr mysteriöses Podest, das sie erhöht und gleichzeitig weiter isoliert, nicht fassen, nicht begreifen und niemand wird ihr dabei helfen. Nicht einmal mit ihrem Geliebten, dem Lehrer Michele Belcore, verbindet sie mehr als die nächtliche Leidenschaft. Belcore bleibt ebenso stumm wie der Rest der Stadt. Sein Lächeln wirkt, wie all das Lächeln im Dorf, wie „ein Schatten, ein mysteriöser Schimmer“. Kaum wechseln die Liebenden mehr Worte als für die nächste Verabredung nötig sind. Einzig für eine kurze Erklärung der stumpfen Stille sagt er mehr als sonst und Elena merkt bald, dass er sich selbst mittendrin sieht:
„Du kennst die Leute nicht, sie glauben an eine Art Plan und daran, dass Gott alles leitet, sie resignieren und auf diese Weise wird das Leben wieder erträglich, sie denken alles sei unausweichlich, das Elend und die Unwissenheit sind Teil diese Fatalismus.“
Giuseppe Favas Roman beunruhigt, weil er gezielt Angst und Unwissenheit einsetzt. Elena, die Frau aus der Großstadt, kann sich nicht erklären, warum sich ein ganzes Dorf in Schach halten lässt und ihre Angst überträgt sich auf den Leser, der die gewollte Stimmlosigkeit genauso wenig verstehen wird. Elena wird die Hilfe Stück für Stück entzogen. Ihr geheimnisvoller Beschützer ahnt, wer ihr zu nahe kommt und helfen könnte: Michele, der Ortsansässige, erklärt sich ohnehin nicht; ein Augenzeuge aus dem Elena treu ergebenen Armenviertel, der trotz seiner Angst mit ihr sprechen will, wird beseitigt; der schlaue Richter Occipinti, der ein denkbares Motiv entschlüsselt, wird schnell auf einen neuen Posten versetzt.

Vieles deutet auf den einen Menschen, der diese bedrückende Kontrolle ausübt, doch Fava lässt in diesem Mikorkosmos nicht einmal beispielhaft zu, was im Makrokosmos schon nicht funktioniert: Würde der Erste den Mund aufmachen, könnte der Bann gebrochen werden. Giuseppe Fava hat den Mund aufgemacht: Der Journalist und Schriftsteller setzte oft die Mafia ins Zentrum seiner Tätigkeit und zog hart mit ihr ins Gericht. Die Mafia tat, was sie auch in Montenero Valdemone getan hätte: 1984 ließ man ihn vor seinem Theater ermorden; der Prozess gegen die Täter verschleppte sich über zehn Jahre hinweg.
Mit derart offensichtlicher Gewalt brach die „ehrenwerte Gesellschaft“, nachdem die Proteste immer lauter wurden. Dennoch steckt Favas Roman nicht fest als Zeitzeugnis vergangener Tage. Montenero Valdemone, übersetzt etwa das Dorf mit dem schwarzen Berg und dem Tal des Teufels, kann überall sein. Fava fragt nach Courage, nach Mitdenken, nach Handeln. Und da der Leser mit Elena mitdenkt und fühlt, muss er sich am Ende auch mit Elena für eine von drei Lösungen entscheiden: Weggehen? Mitmachen? Unterordnen?
„Sie hatte noch zwanzig Sekunden Zeit, sich zu entscheiden …“
Der Autor || Giuseppe Fava wurde am 15. September 1925 geboren. Nach dem Abschluss seines Jurastudiums wandte er sich dem Schreiben zu und war ab 1952 hauptberuflich als Journalist tätig. Bekannt wurde er jedoch vor allem als Autor von Theaterstücken, Romanen und Sachbüchern.
Sowohl als Journalist wie auch als Schriftsteller setzte er sich vor allem mit der mafiosen Gesellschaft seiner Heimat auseinander; sein 1975 erschienener Roman Ehrenwerte Leute war sein größter, auch internationaler Erfolg. 1983 gründete er die Monatszeitschrift I Siciliani, die für die damals gerade entstehende italienische Anti-Mafia-Bewegung sehr einflussreich war.
Am 5. Januar 1984 wurde Giuseppe Fava vor dem von ihm gegründeten Theater in Catania, in dem sein Anti-Mafia-Stück L’ultima violenza aufgeführt wurde, ermordet.
Giuseppe Fava | Ehrenwerte Leute
Unionsverlag
Kriminalroman
Aus dem Italienischen von Peter O. Chotjewitz
224 Seiten
ISBN 978-3-293-20253-5