Nach der Flucht | Gespräche mit Aydin Yarash

Aydin Yarash, geb. 1987, stammt aus Norden Afghanistans. Sie ist gelernte Schneiderin und wohnte in einer Asylunterkunft. Ihr Wunsch ist es, als Dolmetscherin zu arbeiten. Ich lernte sie – auf Umwegen – über ein Sprachpatenprogramm eines Sozialverbandes kennen. Im Frühjahr 2017 zog sie nach Bristol, Großbritannien. Der besseren Jobaussichten wegen. Wir hielten losen Kontakt. 2018 sendete sie mir ein Gedicht von ihr. Ich hatte Fragen und daraus entstand ein reger Mailverkehr. Hier einige der Fragen, die sich im großen und ganzen auf das Gedicht beziehen.

Warum hast Du eigentlich das Gedicht geschrieben? Gab es einen konkreten Anlass?

Das Gedicht war eine Reaktion auf die ständige Angst und den Schmerz, den ich im Krieg und durch die Flucht erlebt habe. Es war der Versuch, all das, was in mir war, irgendwie in Worte zu fassen. Ich wollte, dass die Welt versteht, was passiert, dass Menschen wirklich hören, wie sich dieser Schmerz anfühlt.

Es gab keinen konkreten Anlass – es war eher ein Moment des Überlaufs. Wenn die Erlebnisse so tief und überwältigend sind, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als sie zu Papier zu bringen. Ich wollte die Wut und die Trauer ausdrücken, die mich ständig begleiteten, und gleichzeitig die Sehnsucht nach Frieden, nach einem Ende der Zerstörung.

Du hast diese Zeilen 2018 geschrieben. Du warst also bereits Bristol. Der Krieg in Afghanistan ging bis 2021. Hast Du den Verlauf weiter verfolgt? Hast Du Kontakt zu Verwandten und Freunden in Deiner Heimat versucht zu halten? War das überhaupt möglich?

Ja, ich habe den Krieg weiter verfolgt. Auch wenn ich nicht mehr dort war, blieb er ein Teil meines Lebens. Ich habe Nachrichten gelesen, mit anderen Geflüchteten gesprochen und gehofft, dass es irgendwann besser wird.

Meine Familie und meine Freunde waren noch dort. Ich habe versucht, mit ihnen in Kontakt zu bleiben, aber es war nicht immer einfach. Manchmal funktionierte das Telefon nicht, manchmal hatten sie Angst, offen zu sprechen. Ich habe oft lange auf eine Nachricht gewartet – und manchmal kam keine mehr.

Es war schwer, hier in Sicherheit zu sein, während sie dort weiterlebten, mit all den Ängsten und Verlusten. Ich konnte nur hoffen, dass sie es irgendwie schaffen.

Du schreibst, dass Du Deine Hände im Krieg verloren hast. Ich habe Deine Hände bereits lebendig gesehen. Was möchtest Du mit dieser Metapher ausdrücken?

Als ich schrieb, dass ich meine Hände im Krieg verloren habe, meinte ich nicht buchstäblich meine Hände, sondern das, was sie tun konnten.

Meine Hände haben früher genäht, Kleider geschaffen, etwas aufgebaut. Der Krieg hat mir diese Möglichkeit genommen. Er hat meine Arbeit zerstört, mein Zuhause, meine Sicherheit. Ich konnte nicht mehr das tun, was meine Hände früher getan haben. In diesem Sinne habe ich sie verloren.

Vielleicht bedeutet es auch, dass der Krieg mir meine Selbstständigkeit genommen hat. Ohne Heimat, ohne Sicherheit fühlte ich mich machtlos – als hätte ich keine Hände mehr, um mein Leben zu gestalten.

Ist der Verlust Deines Kindes auch eine Metapher?

Nein. Wenn ich schreibe: „Ich weine, weil mein Kind im Krieg gefallen ist“, dann ist das kein Bild, sondern eine Wahrheit, die viele Mütter in meiner Heimat erleben mussten – vielleicht auch ich.

Aber auch wenn es nicht mein eigenes Kind war, habe ich so viele Kinder sterben sehen. Jedes Kind, das durch den Krieg stirbt, fühlt sich an, als wäre es das eigene. Der Schmerz ist nicht nur individuell – er gehört uns allen.

Vielleicht steckt in diesen Worten beides: persönlicher Verlust und der Schmerz aller Mütter, die den Krieg erleben.

Hat diese Erfahrung Einfluss darauf, ob du eine eigene Familie gründen möchtest? Soweit ich weiß, hast Du bisher keine leiblichen Kinder.

Ja, das hat einen großen Einfluss. Ich habe keine leiblichen Kinder, aber ich habe viele Kinder gesehen, die leiden mussten.

Manchmal frage ich mich: Kann ich einem Kind eine sichere Zukunft geben? Kann ich es vor dem schützen, was ich erlebt habe? Ich möchte eine Familie, aber ich habe auch Angst. Angst davor, dass die Welt, in die ich ein Kind bringe, nicht sicher ge nug ist.

Aber dann sehe ich Kinder, die trotz allem lachen, die weitermachen. Vielleicht ist genau das der Grund, eine Familie zu gründen – um dem Leben zu zeigen, dass es weitergeht, trotz allem. Nun bin ich allerdings nicht mehr jung. Also, wer weiß…

Du lebst inzwischen schon eine Weile in Großbritannien. Hast Du – bildhaft gesprochen – Deine Hände wieder? Wenn ja, was machst Du mit ihnen?

Ja, ich habe meine Hände wieder – nicht, weil der Krieg sie mir zurückgegeben hat, sondern weil ich sie hier neu finden konnte.

Hier musste ich lernen, meine Hände anders zu nutzen. Ich kann wieder arbeiten, wieder gestalten. Vielleicht nicht mehr als Schneiderin, aber als Dolmetscherin – mit meinen Händen schreibe ich, ich helfe Menschen, sich zu verstehen.

Meine Hände können wieder etwas aufbauen, wenn auch auf eine andere Weise. Sie haben den Krieg nicht vergessen, aber sie gehören nicht mehr nur dem Verlust. Sie gehören wieder mir.

Was fehlt Dir aktuell? Wie sieht Dein soziales Umfeld aus?

Was mir fehlt? Heimat. Nicht nur der Ort, sondern das Gefühl, irgendwo wirklich zu gehören.

Mein soziales Umfeld hier ist anders als in Afghanistan. Ich habe einige Freunde, andere Geflüchtete, mit denen ich mich austauschen kann. Wir verstehen einander ohne viele Worte, weil wir Ähnliches erlebt haben. Aber ich vermisse meine Familie, meine alten Freundschaften, die Vertrautheit meiner Sprache und Kultur.

Die Menschen hier sind freundlich, aber oft bleibt eine Distanz. Sie können sich mein Leben nicht vorstellen, und ich kann nicht immer erklären, was in mir vorgeht. Ich versuche, mir hier ein neues Zuhause aufzubauen, aber es fühlt sich manchmal an wie ein Haus ohne festes Fundament.

Kannst du mir nahe bringen, wie es ist, eine Frau in Afghanistan zu sein? Gibt es Freiräume, die im Privaten möglich sind, auch was Kultur und Bildung angeht?

Eine Frau in Afghanistan zu sein, bedeutet, ständig zwischen Angst und Hoffnung zu leben. Zwischen dem, was verboten ist, und dem, was man sich trotzdem nimmt.

Ja, es gibt Freiräume, aber sie sind versteckt, zerbrechlich. Im Privaten, in den eigenen vier Wänden, konnten wir manchmal sein, wer wir sein wollten. Dort konnten wir lesen, lernen, diskutieren – wenn unsere Familien es erlaubten. Manche Väter, Brüder, Ehemänner unterstützten uns, gaben uns Bücher, ließen uns träumen. Andere nicht.

Bildung war immer ein Kampf. Mal gab es Schulen für Mädchen, mal wurden sie geschlossen. Mal durften Frauen arbeiten, dann wieder nicht. Alles hing davon ab, wer gerade an der Macht war, wie viel Risiko man eingehen wollte. Manche Frauen haben im Verborgenen unterrichtet, haben Bücher versteckt, haben sich Wissen angeeignet, obwohl es ihnen verboten war.

Kultur? Auch die musste oft heimlich gelebt werden. Musik, Poesie, Kunst – sie haben uns Kraft gegeben, aber oft nur im Geheimen. In manchen Familien wurde trotzdem gefeiert, wurde gesungen, wurden Geschichten erzählt. Aber immer mit der Angst, dass jemand es sehen oder hören könnte, der es nicht gut meint.

Eine Frau in Afghanistan zu sein, heißt, in einem ständigen Zwiespalt zu leben: zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen Angst und Mut, zwischen Verbot und dem heimlichen Trotzdem.

Und wie ist es jetzt bei Dir? Wie lebst du als Frau in Bristol?

In Großbritannien bin ich freier – zumindest äußerlich. Ich kann mich bewegen, ohne Angst, kann arbeiten, kann lernen. Niemand schreibt mir vor, was ich anziehen muss oder ob ich das Haus verlassen darf.

Aber Freiheit fühlt sich nicht immer leicht an. Manchmal bin ich verloren in ihr. Hier erwartet niemand von mir, dass ich mich verstecke – aber ich habe so lange im Schatten gelebt, dass es schwer ist, ins Licht zu treten.

Ich arbeite daran, mich selbst neu zu finden. Immernoch. Ich lerne weiter, ich baue mir etwas auf. Aber es gibt Dinge, die mir fehlen: das Gefühl von Zugehörigkeit, die Sprache meiner Kindheit, das Verständnis für meine Geschichte.

Ich bin frei – ja. Aber ich trage meine Vergangenheit in mir. Sie reist mit, auch in dieses neue Leben.

Welchen Interessen gehst Du derzeit nach? Womit beschäftigst Du Dich?

Derzeit beschäftige ich mich viel mit dem Erlernen der englischen Sprache. Als wäre ich Muttersprachlerin. Das ist für mich ein Schlüssel, um hier wirklich anzukommen – um mich zu verständigen, aber auch um ein neues Leben zu schaffen.

Ich interessiere mich auch sehr für die Kultur hier, versuche, mich in Literatur und Kunst zu vertiefen, um zu verstehen, wie Menschen hier denken und leben. Das fühlt sich oft wie eine Entdeckung an – ich erlebe „die Welt“ von einer anderen Seite.

Außerdem möchte ich weiter als Dolmetscherin arbeiten. Es gibt so viele, die wie ich ihre Heimat verlassen haben und die sich schwer tun, sich zu verständigen. Ich möchte ihnen helfen, die Brücke zu schlagen, die mir selbst geholfen hat.

Nebenbei finde ich auch Trost in der Poesie und im Schreiben. Es hilft mir, das, was in mir ist, in Worte zu fassen. Manchmal schreibe ich über das, was ich hier erlebe, über das, was ich hinter mir gelassen habe. Schreiben hilft mir, mich zu ordnen und zu heilen.

Ich versuche, diese Dinge zu tun, aber es ist nicht immer leicht. Es gibt Tage, an denen ich das Gefühl habe, mich zu verlieren, an denen ich nicht weiß, wie ich weitermachen soll. Aber ich versuche es, weil ich glaube, dass es mich eines Tages irgendwo hinführt, wo ich wirklich wieder leben kann.

Nachdem was Du erlebt hast: interessierst Du dich für Politik? Bringst Du Dich ein?

Ja, ich interessiere mich für Politik – mehr als je zuvor. Der Krieg hat mir gezeigt, wie sehr politische Entscheidungen das Leben von Menschen beeinflussen können. Wie sie alles zerstören oder retten können. Ich habe erlebt, wie Menschen durch die Machtstrukturen leiden, aber auch, wie sie sich trotz allem auflehnen und für ihre Rechte kämpfen.

Ich bringe mich auf die Weise ein, wie es mir hier möglich ist. Ich spreche mit anderen, versuche, ihnen zu erklären, wie es in meinem Land war, wie wichtig es ist, nicht wegzuschauen, wenn Unrecht passiert. Ich versuche, meine Erfahrungen zu teilen, damit sie als Stimme derer gehört werden, die unterdrückt werden.

Ich bin noch vorsichtig, wie laut ich werde, weil ich mich hier noch nicht ganz angenommen fühle. Aber ich weiß, dass die Geschichten von uns, die geflüchtet sind, gehört werden müssen – dass sie ein Teil des Dialogs über die Zukunft sein müssen. Ich habe gelernt, dass man durch Politik Veränderung bewirken kann – auch wenn es manchmal lange dauert, bis diese Veränderungen sichtbar werden.

Und wie sieht es mit den Rechten der Frau , der Gleichberechtigung aus? Bist Du da aktiv?

Ja, die Rechte der Frauen und die Gleichberechtigung sind für mich schon ein wichtiges Thema. In Afghanistan habe ich selbst erlebt, wie Frauen unterdrückt wurden, wie uns Chancen und Freiheiten verwehrt wurden. Inklusive körperlicher Gewalt. Das hat mich tief geprägt.

Hier in Großbritannien fühle ich mich zwar freier, aber ich sehe immer noch, dass Frauen auf vielen Ebenen benachteiligt sind – sei es in der Arbeitswelt, in der Politik oder im täglichen Leben. Es ist nicht perfekt, aber hier gibt es die Möglichkeit, aktiv zu sein, sich zu engagieren und die Stimme zu erheben.

Ich versuche, mich für die Rechte der Frauen einzusetzen, indem ich mit anderen Frauen spreche, ihre Geschichten höre und uns gegenseitig unterstütze. Ich habe auch angefangen, mich in Organisationen zu engagieren, die sich für Frauenrechte stark machen, insbesondere für Frauen, die wie ich aus Konfliktregionen geflüchtet sind. Es gibt viele von uns, die Unterstützung brauchen – nicht nur durch Gesetze, sondern durch Gemeinschaft und Solidarität.

Ich glaube, dass jede kleine Handlung zählt, und ich versuche, meinen Teil beizutragen. Denn wahre Gleichberechtigung ist nicht nur ein gesetzliches Recht, sondern auch eine gesellschaftliche Haltung – und die braucht Zeit, Geduld und vor allem aktiven Widerstand.

…wird fortgesetzt.

Was mir beim Übertragen der Fragen und Antworten (wertfrei) auffällt: Obwohl wir uns bereits einige Jahre kennen und unsere Gespräche wenig Smalltalk beinhalten: Es stellt sich keine Vertrautheit ein.

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