Aufzeichnungen eines widerständig Lesenden

Nein, gegen ein Verbot ist der Reiz groß, sich aufzulehnen. Das wäre ein konkretes Ereignis gewesen. Es war eher so, dass alles, was unter die – unbegründete – elterliche Zensur fiel, so lange madig gemacht wurde, bis das Kind aufgab und die Finger davon ließ. Oder geschenkte Bücher wurden umgehend entsorgt. Im Deutsch LK grauste es mir bei dem rein analytischen Lesen und Sezieren. Erneut gaben Andere vor, wie ich was zu verstehen hatte. Mein Reaktion war leider die größtmögliche Leseverweigerung.

Ein Beispiel aus dem Privaten sind die Romane Karl Mays. Wie sehr ich diese Romane gemocht habe, höre ich noch heute. Dabei fand ich das alles langatmig und der Tod von Winnetous Schwester Nscho-Tschi hat mich so entsetzt, dass von da an Cowboy-und-Indianer als Motiv tot war. Aber immerhin sah die Schmuckausgabe hübsch aus.
Im Rückblick war das Miesmachen prägender als jedes Verbot. Ich hatte jeden Versuch aufgegeben, herauszufinden, welche Geschichten mir gefielen. Die Konsequenz: über Jahrzehnte machte ich mir fast jede Lektüre bis zur Unlesbarkeit madig. 

Aber – und diese Erkenntnis ist der Anstoß für die ersatz|gestalt – ich habe inzwischen etwa 3 Tausend Bücher gesammelt. Überall im Haus verteilt. Ich habe sie entweder gekauft oder es sind Fundstücke aus offenen Bücherschränken. Viele davon sind Bände mit Erzählungen, Märchen und Sagen. An einzelnen Geschichten sind es also noch mal mehr. Kein Buch wurde je weggegeben, aber auch kaum eines gelesen. Und wenn, dann habe ich mir die Erzählungen, die Romane und Gedichte erarbeitet. Von Lesefreude keine Spur.
Wie kam es zu  diesem Widerspruch? Was vermute ich in diesen Erzählungen? Was erhoffe ich mir, dass ich mich von keinem Buch trennen mag? Das herauszufinden versuche ich nun herauszufinden, indem ich jedes Buch zur Hand nehme und schaue, was geschieht.

Warum schreibe ich kein privates Tagebuch und behalte meine Erfahrungen für mich? Weil es um Geschichten geht. Um wachsende, sich anbahnende, verschwiegene, verfälschte, gute und schlechte, erzählte Geschichte geht. Und meine alte wie neue Leseerfahrung ist ebenso eine Geschichte, die erzählt werden will. Von mir. Und vielleicht finden sich Zuhörende, Lesende und Menschen, die Ihre Gedanken und Erfahrungen teilen möchten.

Die Aufzeichnungen eines widerständig Lesenden

Ich will meine Aufzeichnungen mit eines abgewandelten Satz, den ich bei von Aras Ören gefunden habe, beginnen:

„Die Naunynstrasse füllt sich mit Thymianduft, mit Sehnsucht und Hoffnung, aber auch mit Hass.“

Aus dem Gedicht „Was will Niyazi in der Naunynstraße“ von Aras Ören.

Dieses Zitat aus „Was will Niyazi in der Naunynstraße?“ ist zwar nicht die Initialzündung aber hilft mir dabei zu verdeutlichen wo die Ausgangssituation ist wie der Ausgangspunkt ist. Dann mein Ausspruch.

Während ich diesen Satz lese, formt sich in mir eine persönliche Variante. Statt der Bewohner einer Kreuzberger Straße in ihrer (Zwangs)Gemeinschaft, handelt meine Version von der (Zwangs)Gemeinschaft mit den Büchern unter meinem Dach:

Mein Zimmer ist erfüllt mit dem Duft von Espresso und verstaubtem Papier, mit Sehnsucht und Hoffnung, aber auch mit Hass.

Aufzeichnungen eines widerständig Lesenden.

Zwei Thesen denen ich hier – zu Beginn – auf den Grund gehen möchte:
„Vielleicht sind wir nur die Summe der Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen.“ – Samira El Ouassil
„Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“ – Joan Didion

Der Staub | Der Staub den ich rieche, sehe und schmecke breitet sich auf, vor und mit den Büchern aus. Jedes Mal, wenn ich ein Buch in die Hand nehme, dann wirbel ich ein bisschen Staub auf. Aber nicht genug bisher zumindest um dabei zu bleiben um diesen aufgewirbelten Staub die einzelnen Partikel die einzelnen Teilchen zu einem so etwas Neuem zusammen zu bringen. Nun versuche ich es erneut den Staub aufzuwirbeln sowohl physisch als auch in übertragenem Sinne und den metaphorischen Staub zu etwas Neuem werden zu lassen.

Der Hass |

„Was will Niyazi in der Naunynstraße?“ ist ein Gedicht in Langform von Aras Ören (1973). Es bildet den ersten Teil seiner Berlin-Trilogie, zu der auch Der kurze Traum aus Kagithane (1974) und Die Fremde ist auch ein Haus (1980) gehören. 2019 – zu Örens 80. Geburtstag – wurden die drei Bände erstmals unter dem Titel Berliner Trilogie. Drei Poeme in einem Band veröffentlicht.

Die Ersatzgestalten

1Klaus Walther: Bücher sammeln. Kleine Philosophie der Passionen. dtv, München 2004. ISBN 978-3-423-34142-4.