Helga Königsdorfs Erzählung Respektloser Umgang (1986) beleuchtet die fiktive Begegnung zweier Frauen, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten: Lise Meitner, die bedeutende Atomphysikerin, deren wissenschaftliche Leistungen durch den Faschismus ungerechtfertigt in den Hintergrund gedrängt wurden, und die Ich-Erzählerin, eine Wissenschaftlerin, die auf der Höhe ihres Lebens von einer tückischen Krankheit aus ihrer Arbeit gerissen wird und sich mit den Folgen körperlichen und geistigen Verfalls auseinandersetzen muss. Die Erzählung zeigt, wie die Erzählerin, statt in Isolation zu verfallen, ein zunehmendes Bedürfnis entwickelt, ihre persönliche Erfahrung in einen größeren geschichtlichen Kontext einzuordnen. Ihre individuelle Lebensgeschichte wird dabei zu einem Gleichnis für das Lebensanspruch der Menschheit.
In einer Analyse des GDR Bulletin wird die „fiktive Begegnung zweier Frauen“ hervorgehoben, wobei die Erzählerin in ihrem Dialog mit Lise Meitner zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz kommt. Diese Begegnung zwingt sie, über ihre eigene Stellung in der Welt und die Verantwortung von Wissenschaftler*innen nachzudenken. Besonders die ambivalente Rolle von Frauen in der Wissenschaft wird thematisiert. Respektloser Umgang wird als Werk beschrieben, das sowohl den Dialog mit Meitner als auch die Selbstreflexion der Erzählerin umfasst.

Die Erzählung fordert nicht nur zur Auseinandersetzung mit den eigenen Spuren in der Geschichte auf, sondern auch zur Verantwortung des Einzelnen in der Gestaltung der Zukunft. In Bezug auf das Werk betont die Bundeszentrale für politische Bildung, dass die Ich-Erzählerin in ihren Gedanken und Reflexionen über das Leben und die Verantwortung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine „historische Dimension“ erlangt, die sie in eine tiefere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Zukunft der Menschheit führt.
Königsdorfs Werk zeichnet sich durch eine reflexive und philosophische Erzählweise aus, die den Leser dazu einlädt, über persönliche und kollektive Dimensionen des Lebens nachzudenken. Die Autorin selbst sagte in einem Interview mit dem rbb: „Eigentlich ist der Unterschied gar nicht so groß. Denn beide Disziplinen, die Literatur und die Mathematik, sind keiner speziellen Wirklichkeit verpflichtet.“ Dieser Gedanke verbindet ihre wissenschaftliche Ausbildung und literarische Arbeit und zeigt ihre Fähigkeit, über Grenzen hinweg zu denken und zu schreiben.
Helga Königsdorf war selbst eine Mathematikerin und lange Zeit an der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig. Ihre wissenschaftliche Expertise prägt ihre literarischen Werke, die sich oft mit existenziellen Fragen und der Verantwortung des Einzelnen in einer größeren gesellschaftlichen und historischen Dimension auseinandersetzen. Ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, auch mit den Themen Faschismus und der Rolle von Frauen in der Wissenschaft, wird durch Respektloser Umgang eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht.
Der Titel Respektloser Umgang verweist auf die Auseinandersetzung mit dem, was man im Leben hinterlässt, und auf die Schwierigkeit, als Individuum in einer von vielen geprägten Geschichte einen Platz zu finden. In einer Rezension des GDR Bulletin wird die „doppelte Bewegung“ der Erzählung betont: Der Dialog mit Meitner und die Selbstreflexion der Erzählerin sind untrennbar miteinander verbunden und ermöglichen eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den persönlichen und gesellschaftlichen Dimensionen von Wissenschaft und Geschichte.
Königsdorf wurde 2014 nach langer Krankheit verstorben. Ihre Memoiren spiegeln ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem Leben und Tod wider: „Ich akzeptiere das Sterben nicht. Ich gehe unter Protest. Ich hätte so gerne gesehen, wie es weitergeht.“ Ihre Werke, besonders Respektloser Umgang, bleiben ein bedeutender Beitrag zur Literatur und den Fragestellungen, die den Einzelnen in den Kontext der Menschheit stellen.
Schöne Sätze
„Manches verwundert mich nicht. Der Verlust an Zukunftsträumen schafft den Erinnerungen Raum. Sehnsucht nach einer größeren Kontinuität. Verantwortung für das, was kommen wird. Aber auch die Erkundung des Ursprungs.“ Seite 29
„Ihr Herr Vater ist, wie wir alle, einen weiten Weg gegangen. Vergeblich würden sie die alte Vertrautheit suchen.“ Seite 80
„Der Sinn des Lebens ist das Leben. Es bedarf keiner Rechtfertigung von außen.“ Seite 123
Im Buchbestand
Helga Königsdorf
Respektloser Umgang
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
1.Auflage 1986
Einbandgestaltung von Heinz Hellmis
Ehemaliges Bibliotheksexemplat – ausgetragen 1995
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