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Foto: Кирилл Шевченко

Serhij Zhadan || Anarchy in the UKR

»Vergiss die Politik, lies keine Zeitung, geh nicht ins Netz, verweigere deine Stimme«

So beginnt der »Linke Marsch«, ein Kapitel aus Serhij Zhadans zweitem Prosaband, dem ein Song der Sex Pistols, Anarchy in the UKR, als Motto dient. Zhadan ist dabei, sich zur stärksten Stimme der jungen ukrainischen Literatur zu entwickeln – und zum Antipoden von Juri Andruchowytsch. Auch Zhadans Ich-Erzähler ist ständig im Zug oder in bizarren Landschaften unterwegs. Doch es zieht ihn nicht zu den Ruinen der habsburgischen Vergangenheit, sondern in die Industriebrachen des Donbass im Südosten des Landes – an die Orte des von den Sowjets zerschlagenen Anarchokommunismus. Niemand scheint sich an Nestor Machno zu erinnern. Anarchismus, das gab es nie. Bis er im November 2004 in Charkiw, zu Füßen des »Fuck-Lenin-Denkmals«, wiederaufersteht.

Das Buch || Serhij Zhadan gilt als der populärste ukrainische Lyriker seiner Generation. Im Jahr 2006 erschien im Suhrkamp-Verlag der Gedichtband „Die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts“. Seitdem wird Serhij Zhadan gern mit Rimbaud verglichen. Bekannt wurde er mit den Prosawerken Depeche Mode und dem von den Sex Pistols inspirierten Anarchy in the UKR. Ein postproletarischer Postpunk, der mit Rausch und Rockmusik zu den ukrainischen Industrieruinen reist, um dort die Orte des Anarchokommunismus eines Nestor Machno zu finden. 
„Intim, brutal und lyrisch“, so charakterisiert Serhij Zhadan seinen Prosatext Anarchy in the UKR in eigenen Worten. Nach Juri Andruchowytsch ist der 33-Jährige der nächste ukrainische Autor, der mit seinen Texten auch im deutschsprachigen Raum für Aufsehen sorgt. Warum die Literatur seiner Heimat in Europas Westen seit einigen Jahren gefragt ist, beantwortet er ironisch: „Vielleicht geht es den Autoren in der Schengenzone nicht besonders gut?“

Er selbst ist bei Erscheinen des Buches offiziell arbeitslos gemeldet und lebt zeitweise von der Hand in den Mund. Beklagen will Zhadan sich nicht: „Ich habe kein Auto, kein Haus mit Swimmingpool und kaufe kein Kokain. Ich habe jedoch ein Fahrrad und ganz gute Honorare bei meinen Verlagen.“

Seine ersten Lyrikbände veröffentlichte der im ostukrainischen Charkiw lebende Autor bereits als Teenager. Vor ein paar Jahren ist er zur Prosa übergewechselt. Ein Glücksfall, kombinieren seine Texte doch in bestechender Weise Belesenheit und Literarizität mit einem scharfen Bewusstsein für Popkultur, Rausch und Exzess, wie es sich höchst selten findet.

In seinem letzten Roman „Depeche Mode“ lässt Zhadan die Bilder der postkommunistischen Umbruchsphase Anfang der neunziger Jahre aufleben und zieht durch die verlassenen Industrieruinen, die an die russische Herrschaft im Osten der Ukraine erinnern. In „Anarchy in the UKR“ geht er noch ein Stück weiter zurück und sucht die Orte des von den Sowjets zerschlagenen Anarchokommunismus auf, die auch die Orte seiner Kindheit sind.

Auf seinen sentimentalen Reisen ist der Weg das Ziel. Die Figuren nehmen mit Vorliebe den langsamsten Zug und steigen möglichst oft um. Wer die Direktverbindung wählt, verpasst alles. Seine Schilderungen handeln von liebevoll  beschriebenen Zugbekanntschaften, die teils recht skurril sind, von endzeitlichen Nebenstrecken, von Schnapsleichen auf Bahnhöfen und gähnend leeren Wartesälen. Zitat:

 „Alles, was spannend ist, spielt sich auf Bahnhöfen ab, und je kleiner der Bahnhof, um so mehr Spannendes. Es ist ein großer Fehler zu glauben, der Staat hätte Einfluss, Einfluss hat der Bahnhofsvorsteher, der in seinem Büro sitzt und den nächsten Güterzug von West nach Ost passieren lässt.“

Doch was passiert eigentlich? Zhadans Prosa lädt sich an der Sehnsucht nach Erlebnissen, nach Inhalten und Sinn auf, die ihre melancholischen Helden in sich tragen. Eine Sehnsucht, die nicht erfüllt wird. Bilder sind wichtiger als Ideologie. Sie waren es vermutlich immer schon. Der Held von Anarchy stellt wenig verblüfft fest, „dass die Farbwahl und Komposition von ,Ehre und Ruhm der Partei‘ aus den Achtzigern dem ,Always Coca Cola‘ der Neunziger gleicht.“

Und der Wandel in der Ukraine, bläst der keinen frischen Wind in den Osten des Landes? „In Charkiw sprechen die Leute auf der Straße alle noch russisch“, sagt Zhadan. Allerdings: „Wenn man sie ukrainisch anspricht, antworten sie sehr oft auch ukrainisch. Die meisten verstehen sich heute durchaus als ukrainische Bürger und arbeiten für unsere Wirtschaft.“

Dem Autor Zhadan ist die heutige Ukraine – noch – uninteressant. Bald könnte das freilich anders aussehen: „Schon entwickeln sich die ersten Ruinen des Kapitalismus“, schmunzelt er. Vielleicht streifen seine Helden irgendwann durch die Ruinen hastig aufgezogener Flagship-Stores und Fastfood-Lokale. Big Mäc ist ein noch nicht ins Deutsche übersetztes Buch betitelt. Oder sie handeln von den aktuellen Konflikten mit Putins Schergen.

Vielleicht bleibt Zhadan dem schönen Urbild seines Schreibens treu: einem verlassenen Bahnhof. „Denn es hängt doch so wenig von uns ab“, heißt es in einem Gedicht, „das Leben hat ja weder Ende noch Anfang / und nach jeder großen Liebe / bleiben leere / Wartesäle zurück.“

Der Autor || Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw.  Er ist Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer. (Quellen: suhrkamp/wikipedia)

Randbemerkungen || Serhij Schadan wurde 2006 mit dem Hubert Burda Preis für junge Lyrik ausgezeichnet.
Der Schriftsteller war Aktivist der Orangen Revolution.
Er tritt als Organisator von Literatur- und Musik-Festivals in Erscheinung und verfasst MusikTexte, die er selbst zur Musik der Band Sobaky w kosmossi (übersetzt: Hunde im Kosmos) spricht.

Serhij Zhadan | Anarchy in the UKR
Erschienen: 26.11.2007
edition suhrkamp 2522, Broschur, 216 Seiten
ISBN: 978-3-518-12522-9
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe