Vom Misstrauen zur Neugier – Wie mir das Illustrieren von Geschichten hilft, Texte neu zu begreifen

Lesen war für mich lange Zeit ein ambivalenter Akt. Nicht, weil ich die Worte nicht verstand, sondern weil sie in mir ein tiefes Misstrauen weckten. Aufgewachsen in einem Elternhaus, in dem psychische und physische Gewalt alltäglich waren, lernte ich früh, dass Sprache nicht der Wahrheit dient, sondern ihrer Vertuschung. Die Lügen einer „heilen Familie“, die nach außen zelebriert wurden, prägten mein Verhältnis zu Geschichten: Romane erschienen mir als Fortsetzung dieser Täuschung – kunstvoll verpackte Fiktionen, die nichts mit der Realität zu tun hatten. Warum sollte ich mich für etwas begeistern, das mir wie eine weitere Schicht der Unwahrheit vorkam?

Diese Haltung begleitete mich auch in die Schule. Während andere Schüler:innen sich in Abenteuer oder Fantasiewelten vertieften, rang ich mit Texten. Ich erkannte in literarischen Figuren keine Helden oder Bösewichte, sondern Projektionen meiner eigenen Erfahrungen: zerbrochene Beziehungen, versteckte Ängste, performative Harmonie. Wenn Lehrkräfte nach Symbolen oder Moral fragten, antwortete ich mit Interpretationen, die sie oft als „überinterpretiert“ oder „abwegig“ abtaten. Der Glaube, ich könne Texte nicht „richtig“ verstehen, festigte sich. Die Lust am Lesen verkümmerte – und mit ihr die Fähigkeit, mich auf schriftliche Narrative einzulassen.

Erst Jahre (besser gesagt: Jahrzehnte) später, als ich begann, Geschichten zu illustrieren, änderte sich mein Zugang. Das Visualisieren von Handlungssträngen, Figuren oder Emotionen zwang mich, Texte analytisch zu sezieren – nicht um eine „richtige“ Deutung zu finden, sondern um sichtbar zu machen, was ich fühlte oder sah. Plötzlich wurde Lesen zu einem Dialog: Ich konnte der Handlung skeptisch gegenüberstehen, gleichzeitig aber über Farben, Formen und Kompositionen eine eigene Ebene der Auseinandersetzung schaffen. Die Distanz zwischen Text und Leser:in verringerte sich; das Misstrauen wich einer vorsichtigen Neugier.

Recherchen zeigen, dass solche Brüche im Textverständnis keine Seltenheit sind. Studien verweisen darauf, dass traumatische Kindheitserfahrungen die Beziehung zu Narrativen prägen können – sei es durch Assoziationen mit manipulativer Kommunikation oder durch die Abwehr von Fiktion als Schutzmechanismus. Gleichzeitig nutzen viele Betroffene kreative Methoden, um Zugänge zu finden: Das Umsetzen von Texten in Bilder, Musik oder Bewegung hilft, emotionale Barrieren zu umgehen und Inhalte auf eine persönlich kontrollierbare Weise zu erfassen.

In diesem Blog möchte ich erkunden, wie künstlerische Praxis – insbesondere das Illustrieren – mir dabei hilft, verlorenes Textverständnis nachzuholen. Es geht nicht darum, „besser“ zu lesen, sondern darum, eine Sprache zu finden, die zu mir passt. Vielleicht finden sich hier auch andere, die Geschichten lange als Lügen empfanden – und nun bereit sind, sie neu zu entdecken.

Ich lade Sie daher ein, mit mir diesen Weg zu erkunden. Lassen Sie uns gemeinsam herausfinden, wie wir über alternative, kreative Zugänge nicht nur das Textverständnis verbessern, sondern auch unsere persönliche Beziehung zur Literatur und zu unseren eigenen Geschichten neu entdecken können.

Von diesem Künstlerinnen lerne ich aktuell das Illustrieren von Geschichten:

Alejandra AcostaSveta DoroshevaPaula Bossio

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