Zwischen Nähe und Neutralität – Der schmale Grat der Reportage

Gedanken zum Roman Der Papierkönig von Hansjörg Schertenleib.

Die Herausforderung der Distanz

Jeder Journalist steht irgendwann vor der Frage: Soll ich über ein Thema berichten, das mich persönlich betrifft? Die Entscheidung ist heikel. Einerseits kann emotionale Nähe eine Reportage authentischer machen, andererseits droht der Verlust der professionellen Distanz. Wie finden Medienschaffende hier den richtigen Weg – und wann wird die persönliche Betroffenheit zum Problem?

Die Faszination des Persönlichen

Themen, die uns berühren, treiben uns an. Die US-Journalistin Nikole Hannah-Jones, Schöpferin des preisgekrönten 1619 Project zur Aufarbeitung der Sklaverei in den USA, betont: „Lebenserfahrung ist eine Form von Expertise. Marginalisierte Stimmen wurden lange unter dem Deckmantel der ‚Objektivität‘ zum Schweigen gebracht.“ Ihre Arbeit löste Debatten aus – nicht nur über Geschichte, sondern auch über die Rolle des Journalismus: Ist das noch Berichterstattung oder schon Aktivismus?

Auch Investigativreporter Glenn Greenwald, bekannt durch die Enthüllungen der Snowden-Leaks, verteidigt sein Engagement: „Neutraler Journalismus ist oft nur eine Bestätigung der Machtverhältnisse. Echte Berichterstattung muss Partei ergreifen – für die Wahrheit.“

Das Risiko der Befangenheit

Doch Nähe kann blind machen. Als der mexikanisch-amerikanische Journalist Jorge Ramos 2015 in einer Pressekonferenz Donald Trump scharf zur Einwanderungspolitik befragte, warf man ihm vor, als Aktivist aufzutreten. Ramos konterte: „Ich bin kein Aktivist. Aber ich bin auch kein neutraler Beobachter, wenn Menschenrechte verletzt werden.“

Die Grenzen sind fließend. Der Code of Ethics der Society of Professional Journalists warnt: „Vermeide Interessenkonflikte – oder mache sie transparent.“ Doch wie geht man damit um, wenn das Thema die eigene Identität berührt? Die deutsche Journalistin Kübra Gümüsay, die häufig über Rassismus und Feminismus schreibt, reflektiert: „Ich bin Teil der Geschichten, die ich erzähle. Das erfordert ständige Selbstreflexion: Habe ich alle Perspektiven gehört?“

Strategien für den Balanceakt

Transparenz ist ein Schlüssel. Als die New York Times 2020 eine Reportage über LGBTQ+-Jugendliche im ländlichen Amerika veröffentlichte, offenbarte die Autorin gleich zu Beginn ihre eigene queere Identität – und schuf so Vertrauen. Gleichzeitig arbeitete sie mit einem Redaktionsteam zusammen, das auf Ausgewogenheit achtete.

David Remnick, Chefredakteur des New Yorker, betont: „Es geht nicht darum, keine Meinung zu haben. Es geht darum, fair zu sein und sich der Verantwortung bewusst zu sein, die wir gegenüber den Fakten tragen.“

Deutsche Perspektiven: Zwischen Betroffenheit und Distanz

Auch in Deutschland gibt es Journalisten, die sich dieser Herausforderung stellen. Ein Beispiel ist Erwin Koch, bekannt für seine literarischen Reportagen. Er sagte in einem Interview mit dem Stern: „Ich bin kein neutraler Beobachter. Ich bin ein Teilnehmer, der versucht, die Welt zu verstehen und zu beschreiben.“ Dennoch bleibt er reflektiert: „Man muss sich immer fragen: Wo endet die Empathie, und wo beginnt die Selbstinszenierung?“

Ein weiteres Beispiel ist Düzþn Tekkal, die als Tochter jesidischer Einwanderer über Integration, Migration und religiöse Verfolgung schreibt. Sie betont: „Ich kann nicht so tun, als wäre ich nicht Teil dieser Geschichten. Aber ich achte darauf, dass ich nicht nur meine eigene Sichtweise darstelle, sondern auch andere Stimmen einbeziehe.“

Roger Willemsen: Die Ethik der Nähe

Der verstorbene Autor und Moderator Roger Willemsen reflektierte über journalistische Distanz in seinem Buch Die Enden der Welt. Er sagte einmal: „Neutralität ist oft nur eine Ausrede, um sich nicht positionieren zu müssen. Aber gerade im Journalismus geht es darum, Haltung zu zeigen – ohne dabei die Fakten zu vernachlässigen.“ Gleichzeitig warnte er: „Man muss sich immer fragen: Bin ich noch der Erzähler, oder bin ich schon der Protagonist?“

Berichte aus Krisengebieten: Krieg und politische Konflikte

Die Herausforderung, Nähe und Distanz zu wahren, wird besonders in der Berichterstattung aus Kriegsgebieten deutlich. Marie Colvin, die bis zu ihrem Tod in Syrien berichtete, sagte: „Ich versuche, den Stimmen derer Gehör zu verschaffen, die sonst nicht gehört werden.“ Ihr Antrieb war humanitär, doch ihre Reportagen blieben faktenbasiert.

Fazit: Nähe als Chance – mit klaren Grenzen

Persönliche Betroffenheit muss kein Hindernis sein, solange Journalisten ihre Rolle kritisch hinterfragen. Wie die US-Ethikerin Jane E. Kirtley warnt: „Die größte Gefahr ist nicht die Subjektivität, sondern die Weigerung, sie anzuerkennen.“Die Balance zwischen Nähe und Distanz ist kein Widerspruch, sondern eine Chance – solange sie mit Selbstreflexion und Transparenz einhergeht. Wie Erwin Koch es formulierte: „Journalismus ist kein Handwerk der Distanz, sondern der Nähe – aber diese Nähe muss reflektiert sein.“ Und Roger Willemsen ergänzte: „Es geht nicht darum, neutral zu sein, sondern fair. Und Fairness bedeutet, sich selbst immer wieder zu hinterfragen.“

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

error: Content is protected !!