Im Eiscafé – Die Gedanken sind frei

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Das Eiscafé schwitzte unter Bleiglaslicht. Abgasschwaden krochen über Tischkanten, mischten sich mit dem Sirupgeruch schmelzender Eiswolken. Ein Junge hockte über verkabelten Geräten, die Hände um eine kalte Limonadenflasche geklammert.

Sie ließ sich in den Stahlrohrstuhl sinken, als trüge sie Jahrzehnte im Handtaschenleder. Ihre Augen suchten den Ort, an dem früher das Klingeln von Straßenbahnen durch offene Fenster schwappte und Männer mit Zeitungen über Marx stritten wie über Schachzüge.

„Bleib sitzen“, raunte sie, als er sich zum Aufstehen anschickte. Sein Pullover atmete den Duft von Mikrowellenessen und endlosen Nachmittagen.

Er hielt ihr ein Kabel hin, an dessen Ende weiße Muscheln aus Kunststoff baumelten. „Damit erstickst du die Welt. Spielst nur noch deinen eigenen Soundtrack.“

Sie betastete die glatte Oberfläche wie ein Fossil. „Früher haben wir hier Revolutionen gebraut. Mit Worten, nicht Wellenlängen.“
Seine Finger zuckten über den Bildschirm – ein nervöses Zählen unsichtbarer Münzen. „Und? Habt ihr gewonnen?“

Ihr Lachen war das Rascheln vergilbter Seiten. Plötzlich durchschnitt eine Stimme die Klimaanlagenluft, spröde wie Kreide auf Schiefertafeln: „Die Gedanken sind frei…“

Das Summen der Kühltheke synchronisierte sich zum Walzertakt. Hinter der Theke klirrte jemand Taktzeichen in Espressotassen. Selbst der Verkehr draußen schien einen Herzschlag lang den Rhythmus zu halten.

„Klingt wie Wasserhahnmusik“, flüsterte er, doch sein Nackenhaar sträubte sich. Als hätte jemand die Firewall zwischen den Epochen geknackt.

„Genau so.“ Sie strich über das Kabel wie über einen Rosenkranz. „Sie pfeifen es in U-Bahn-Schächten. Flüstern es hinter vorgehaltener Hand. Je lauter sie schreien, desto tiefer gräbt es sich ein.“

Er schob einen Kopfhörer über ihr Ohr, behutsam, als fürchte er, sie könne zerbröckeln. „Hör mal Track sieben. Da ist… so was Ähnliches.“

Über der Tür rotierte eine Kamera. Irgendwo kreischte eine Säge durch Stahlträger. Doch für diesen Moment war der Lärm nur Vorhang vor einem alten Theater, in dem noch immer Stücke ohne Drehbuch aufgeführt wurden.

Das Lied „Die Gedanken sind frei“.

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