Hanna Mittelstädt – Autorin, Übersetzerin und Verlegerin mit politischem Engagement. Geboren 1951 in Hamburg, wuchs sie in den politischen Umbrüchen der 1960er Jahre auf und entwickelte früh ein starkes Engagement für gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen.
Die Gründung des Editions Nautilus
Mittelstädt ist vor allem für ihre Rolle als Mitgründerin des Verlags Edition Nautilus bekannt. Gemeinsam mit ihrem Lebenspartner Lutz Schulenburg und dem französischen Übersetzer Pierre Gallissaires gründete sie 1973 den MAD-Verlag für sozialistische Texte und Literatur, der 1974 in Edition Nautilus umbenannt wurde. Dieser Verlag sollte nicht nur ein Zuhause für politische Literatur sein, sondern auch als Plattform für kritische Denkansätze und alternative Sichtweisen dienen. Die Editionsphilosophie spiegelte sich in einem Programm wider, das linke Literatur und politische Analysen förderte und die sozialen Bewegungen der Zeit unterstützte – von der Studentenrevolte über die Frauenbewegung bis hin zur Anti-Atomkraftbewegung. Mittelstädt erklärte: „Ein Gedicht kann genauso revolutionär sein wie ein theoretischer Text.“ Diese Haltung brachte die „Edition Nautilus“ nicht nur zu einem der bekanntesten Verlage der deutschen Linken, sondern auch zu einem bedeutenden Einflussgeber auf die politische und kulturelle Landschaft der damaligen Zeit.
Übersetzerin und Herausgeberin
Neben ihrer Arbeit als Verlegerin war Hanna Mittelstädt auch als Übersetzerin tätig. Besonders hervorzuheben sind ihre Übersetzungen von Werken der Dada- und Surrealismus-Bewegung. Sie brachte Werke von Autoren wie Benjamin Péret, Francis Picabia und Tristan Tzara ins Deutsche, darunter auch die Gedichte von Picasso, die sie 1993 unter dem Titel „Gedichte“ veröffentlichte. Ihre Übersetzungen eröffneten den deutschen Lesern einen neuen Blick auf die internationale Avantgarde-Literatur und gaben bedeutenden literarischen Strömungen des 20. Jahrhunderts eine breitere Bühne.
Lyrik und Literatur
Mittelstädt beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Rolle der Verlegerin und Übersetzerin. Sie ist auch selbst als Autorin aktiv. Besonders in den 1990er Jahren veröffentlichte sie eigene Werke, darunter den Erzählband „Die Hacienda muss gebaut werden“ (1994) und das Reisebuch „Mit den Augen hören. Zehn Tage in Chiapas, Mexiko“ (1995), das ihre Erlebnisse in einem der politisch aufgeladenen Gebiete Mexikos beschreibt. Ihr Engagement für eine politisch aufgeladene Literatur setzte sich auch in ihrer Lyrik fort. 2016 veröffentlichte sie den Lyrikband „Die Notwendigkeit des Mondes“, der ihre poetische Auseinandersetzung mit Themen wie Liebe, Verlust und gesellschaftlicher Veränderung widerspiegelt. Die Gedichte zeichnen sich durch eine klare und zugleich tiefgründige Sprache aus, die den Leser dazu einlädt, über persönliche und gesellschaftliche Umbrüche nachzudenken.
Der Briefwechsel und die Chronik des Verlags
Ein weiteres bemerkenswertes literarisches Projekt war der veröffentlichte Briefwechsel mit der Autorin Anna Rheinsberg, der 1999 unter dem Titel „Liebe Hanna – Deine Anna“ erschien. Dieser intime Austausch zeigt nicht nur die persönliche Seite Mittelstädts, sondern auch ihre tiefgehende Auseinandersetzung mit den Herausforderungen von Kunst und Leben.
Nach dem Tod von Lutz Schulenburg im Jahr 2013 übergab Mittelstädt die Leitung der Edition Nautilus an eine Genossenschaft von Mitarbeiterinnen und widmete sich verstärkt eigenen literarischen Projekten. Ihr Roman „Blu – Lovestory“ (2021) erzählt die Geschichte einer verlorenen Liebe und spiegelt ihre Fähigkeit wider, intime und persönliche Themen mit einer breiten kulturellen Perspektive zu verbinden. 2023 veröffentlichte sie zudem eine Chronik des Verlags, „Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens. Chronik eines Verlags“, in der sie sowohl die Geschichte der Edition Nautilus als auch ihre persönliche Philosophie als Verlegerin und Autorin reflektiert.
Politische und kulturelle Prägung
Mittelstädt wuchs in einem Umfeld auf, das von politischen Bewegungen und kulturellen Umbrüchen geprägt war. Die Erfahrungen dieser Zeit – der Widerstand gegen autoritäre Strukturen, die Auseinandersetzung mit der sozialistischen Idee und das Engagement für soziale Gerechtigkeit – sind in ihrem literarischen Werk und ihrer Verlagsarbeit stets präsent. Ihr Verlag war und ist ein Ort für politisch und kulturell aufgeladene Literatur, die sich mit den gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart auseinandersetzt.
Mittelstädt bleibt eine zentrale Figur in der deutschen Literaturszene. Ihre Arbeit als Verlegerin, Übersetzerin und Autorin hat nicht nur die politische Literatur in Deutschland beeinflusst, sondern auch eine ganze Generation von Leserinnen und Lesern geprägt. Sie steht für eine Literatur, die über den Tellerrand hinausblickt und dabei stets die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung stellt.
Heute widmet sich Hanna Mittelstädt weiterhin eigenen literarischen Projekten, während sie zugleich das Erbe der Edition Nautilus als eines der wenigen verbliebenen Verlage für politische Literatur bewahrt. Ihr Werk bleibt ein lebendiges Beispiel dafür, wie Literatur als Mittel für sozialen und kulturellen Wandel genutzt werden kann.
Im Buchbestand
Die Notwendigkeit des Mondes