> Lesetagebuch <
Michał Sibiński | Ich habe einen schönen Specht gesehen
Die Einleitung in diesem farbintensives Buch:
Ich war damals acht Jahre alt. Die Ferien über habe ich täglich einen Satz in mein Heft geschrieben, eine Sache, die ich erlebt habe. Das war meine Aufgabe, damit ich in die 2. Klasse versetzt werden konnte. Das Heft habe ich immer noch.
63 Sätze – zwischen dem 15.07. und dem 15.09.1939 aufgeschrieben – sind im Buch festgehalten. Der letzte Eintrag ist nicht illustriert, weil er ein Gerücht aufgreift, welches eher Hoffnung ausdrückte als als wahr zu sein.
„Schön“ ist der einzige direkte Gefühlsausdruck, den ich entdecken konnte. Auch nach Kriegsausbruch änderte sich das nicht. Die Sätze sind einfach und klar. Das jeweilige Highlight des Tages wirkt so nüchtern und karg, das es mir schwer fällt dieses mit Leben zu füllen. Erst am Ende des Buches gibt es Hintergrundinformationen. So habe ich beim „Lesen“ immer wieder den Eindruck einer gewissen Zusammenhanglosigkeit. Ein Satz ist schnell gelesen. Viel länger bleibe ich bei den Illustrationen der polnischen Künstlerin Helena Stiasny (hier nutzt sie das Pseudonym Ala Bankroft) hängen.
Hat sich die Malerin (Jahrgang 1979) mit dem Autor ausgetauscht um die jeweilige erinnerte Stimmung festzuhalten?
Unterbrochen werden die illustrierten 1-Satz-Einträge durch die Reproduktion einzelner Seiten des Originalheftes. Das Buch lebt – für mich – bisher durch die wuchtigen Acrylbilder. Oft bleibt der Text im Hintergrund, das sich nicht immer eine klare Verbindung herstellen lässt. Wirklich berührt hat mich das Gemälde in Verbindung mit dem Eintrag zum 29.08.1939: „Vati hat mich besucht.“ In der Mitte des Bildes eine leere Parkbank, die im satten Orange steht, umrahmt von braun- und grüntönen umstehender Bäume. Die Perspektive, die Helena Stiasny gewählt hat, erinnert mich an ein „durch die Bäume luscherndes“ beobachten. Wie in allen Illustrationen sind keine Menschen zu sehen.
Auch ohne die Hintergründe zu diesem Eintrag zu kennen, wird klar: dieser Tag ist ganz besonders. Es ist erscheint mir wichtigste, neben dem des 01.09.. Wenn das auch erst im Rückblick klar wird.
Michał Sibiński lebte mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder im Warschauer Stadtteil Mokotów. Nach Kriegsbeginn brachte sein Großvater die beiden Jungs zum Urgroßvater nach Milanówek, einem etwa 30 km südlich von Warschau gelegenen Ort.
Was fehlt: Gern hätte ich gelesen, wie Michał Sibiński über dieses Buch denkt, wie er heute zurückblickt und dieses Zeitfenster reflektiert.
Aufgeworfene Fragen
Wäre es nicht sinnvoll gewesen, die Illustrationen von einem Zeitgenossen, einer Zeitgenossin anfertigen zu lassen? Oder ist es vielleicht sogar eine gute Idee, eine generationsübergreifende Brücke zu schlagen: Jung interpretiert alt?
Abgesehen davon, dass es ein „schön“ gestaltetes Buch ist; was fange ich mit dieser Form des öffentlichen Erinnerns an?
Wen oder was spricht dieses Buch tatsächlich an?
Was kann ich bezüglich Darstellung meiner Familiengeschichte als Anregung übernehmen? (Arbeitsauftrag)
Zwischenfazit: Mir ist nicht klar, welche Rolle dieses Buch in unserer Erinnerungskultur spielt, spielen soll. Was allerdings definitiv spannend ist: Die Idee, einen Satz mit einer illustration zu interpretieren und so zu einer kleinen Erzählung zu machen.
Vertiefen und behalten oder weitergeben?
Bibliografische Angaben:
Michał Sibiński | Ich habe einen schönen Specht gesehen. – 2021
Originaltitel: „WIDZIAŁEM PIĘKNEGO DZIĘCIOŁA“ – 2019
Prestel Verlag
ISBN 978 3 7913 7485 7
Hardcover – 15€
Nebensache: Warum wird als Urheber des Textes nicht Michał Sibiński angegeben sondern Marcin Sibiński? Obwohl im Buch wird angegeben ist: „Der Autor der Zeilen, auf denen das Buch basiert, lebt noch.
Titelbild: Fotografie der ersten beiden Innenseiten des Buches.
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