Sarah Kirsch - Bodenlos - Gedichte - ersatzgestalt

Bodenlos – Sarah Kirsch

Die Grenzgängerin der deutschen Lyrik | Sarah Kirsch (1935–2013) war weit mehr als nur eine bedeutende deutsche Lyrikerin – sie war eine literarische Grenzgängerin, deren Biographie und Werk die Verwerfungen des geteilten Deutschlands in einzigartiger Weise spiegeln. Geboren als Ingrid Bernstein in dem thüringischen Dorf Limlingerode, vollzog sie bereits früh einen ersten symbolischen Akt der Selbstbehauptung: Aus Protest gegen den Antisemitismus ihres Vaters änderte sie ihren Vornamen in Sarah – eine Entscheidung, die sowohl persönliche Rebellion als auch politisches Statement war.

Ihr Lebensweg führte sie zunächst durch die institutionellen Kanäle der DDR: Biologiestudium in Halle, später Literaturstudium am renommierten Johannes R. Becher-Institut in Leipzig. Doch schon in den 1960er Jahren positionierte sie sich als Teil jener Generation junger Autoren, die sich gegen die dogmatischen Vorgaben der sozialistischen Literaturpolitik auflehnten. Ihre Dichtung entwickelte eine unverwechselbare Stimme – den sogenannten „Sarah-Sound“ –, der sich durch minutiöse Naturbeobachtungen, überraschende Bildverknüpfungen und eine kompromisslos subjektive Perspektive auszeichnete.

Der Bruch kam 1976: Ihr Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns führte zum Ausschluss aus der SED und schließlich 1977 zur eigenen Übersiedlung nach Westdeutschland. Diese Zäsur markiert nicht nur eine politische, sondern vor allem eine existenzielle Wende: Aus der kritischen Stimme innerhalb des sozialistischen Systems wurde eine Dichterin im Exil, die ihre Heimatlosigkeit zu einem zentralen Thema ihres Spätwerks machte.

Die Jahre nach der Übersiedlung verbrachte sie als freie Schriftstellerin und Malerin an verschiedenen Orten, zuletzt in der norddeutschen Abgeschiedenheit von Tielenhemme in Schleswig-Holstein. Dort, zwischen Marschlandschaft und Horizont, fand sie jene Ruhe und Distanz, die ihrer späten Lyrik ihre besondere Intensität verlieh. Ihre literarische Anerkennung dokumentiert sich in zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-Büchner-Preis (1996) – der höchsten Auszeichnung für deutschsprachige Literatur.

„Bodenlos“ (1996) – Dichtung der Entwurzelung

Mit dem Gedichtband „Bodenlos“, 1996 in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen, schuf Sarah Kirsch eines ihrer eindringlichsten Werke. Der Titel fungiert dabei als Programm: Er verweist auf jenen Zustand existenzieller Unsicherheit, der entsteht, wenn die gewohnten Koordinaten des Lebens wegbrechen. „Bodenlos“ – das bedeutet nicht nur den Verlust fester Bezugspunkte, sondern auch die Erfahrung des Schwebens zwischen Welten, Identitäten und Gewissheiten.

Die Gedichte dieser Sammlung sind geprägt von einer spezifischen Form der Kürze und Verdichtung. Kirsch verzichtet auf rhetorischen Überschwang und große Gesten; stattdessen setzt sie auf die Kraft des Andeutens, des präzisen Moments, der scheinbar beiläufigen Beobachtung. Diese ästhetische Haltung entspricht der thematischen Ausrichtung: Einer Dichtung, die aus dem Verlust von Sicherheiten ihre poetische Energie bezieht.

Die Melancholie, die viele Texte durchzieht, ist dabei nie selbstmitleidig oder sentimental. Vielmehr handelt es sich um eine philosophische Melancholie – die Trauer über die Vergänglichkeit menschlicher Bindungen, über die Unmöglichkeit dauerhafter Verortung in einer beschleunigten Welt. Kirsch erweist sich als Chronistin jener modernen Erfahrung der Heimatlosigkeit, die nicht nur politische Flüchtlinge und Exilierte betrifft, sondern zur Grundsignatur zeitgenössischen Lebens geworden ist.

Besonders bemerkenswert ist, wie die Dichterin die Natur nicht als romantische Gegenwelt zur Zivilisation inszeniert, sondern als Raum der Reflexion und der Selbstvergewisserung. Die norddeutsche Landschaft, in der sie ihre letzten Lebensjahre verbrachte, wird zum Resonanzraum für existenzielle Fragen: Wie lässt sich leben, wenn der Boden unter den Füßen wegbricht? Welche neuen Formen des Sich-Verhaltens zur Welt sind möglich, wenn die alten Gewissheiten verschwinden?

Die Poetik des Schwebens

Ein Schlüsseltext der Sammlung ist das Gedicht „Herzgespann“, aus dem die Zeilen stammen: „Wem der Boden entzogen wird, der fällt in den Abgrund oder muß leichter werden als der Boden. Und fliegen. Besser noch schweben; es wäre die schönere Rettung.“

Diese Verse enthalten eine kleine Poetik der Bewältigung existenzieller Krisen. Das Schweben wird zur Alternative sowohl zum Absturz als auch zum verkrampften Festhalten. Es ist eine Bewegungsform, die Leichtigkeit und Kontrolle verbindet, die den Verlust von Sicherheit in eine neue Form der Existenz verwandelt. In dieser Metapher verdichtet sich Sarah Kirschs gesamte Lebenserfahrung: die zweimalige Entwurzelung (erst durch die Flucht aus der familiären Enge, dann durch die Ausreise aus der DDR), die Verwandlung von Verlust in poetische Produktivität.

„Bodenlos“ könnte man somit als Testament einer Dichterin werten, die aus der historischen Erfahrung der deutschen Teilung eine universelle Sprache der modernen Existenz entwickelt hat. Sarah Kirschs Verse sprechen zu allen, die die Erfahrung der Entwurzelung kennen, sei es durch Migration, gesellschaftlichen Wandel oder die simple Tatsache, in einer Zeit zu leben, in der alte Gewissheiten täglich neu verhandelt werden müssen.

In ihrer Verbindung von biografischer Authentizität und poetischer Verallgemeinerung, von politischer Erfahrung und existenzieller Reflexion erweist sich Sarah Kirsch als eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Lyrik der zweiten Jahrhunderthälfte. „Bodenlos“ steht exemplarisch für eine Dichtung, die aus der Krise ihrer Zeit nicht in nostalgische Flucht oder ideologische Gewissheiten ausweicht, sondern die Unsicherheit selbst zum produktiven Prinzip macht.

Sarah Kirsch, geboren am 16. April 1935 in Halberstadt (eigentlich Ingrid Hella Irmelinde Kirsch, geborene Bernstein), war eine deutsche Schriftstellerin. Sie wuchs in der DDR auf und studierte Literatur in Halle und Leipzig. In den 1960er Jahren begann sie, sich kritisch mit den politischen Verhältnissen in der DDR auseinanderzusetzen.
1977 siedelte Sarah Kirsch nach West-Berlin über, nachdem sie zuvor aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen worden war. Ihr Werk umfasst zahlreiche Gedichtbände, Prosatexte und Übersetzungen. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur und wurde für ihr Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Georg-Büchner-Preis.
Ihr lyrisches Werk zeichnet sich durch eine intensive Naturwahrnehmung, eine kraftvolle und eigenwillige Sprache sowie eine Sensibilität für gesellschaftliche und politische Themen aus. Sarah Kirsch starb am 5. Mai 2013 in Hohenfichte.

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