Bei Texten, die bereits vor langer Zeit geschrieben wurden, stellt sich die Fragen: Was fange ich mit diesem Text heute noch an? Was hat er mir jetzt noch zu sagen? Lässt sich der Kern übertragen? Und wenn ja, wie?
Eine Annäherung
Stephen Cranes „In the Desert“als Brennglas für deutsche Gegenwart
Stephen Cranes Gedicht „In der Wüste“ entstand vor über 100 Jahren aus der Desillusionierung des amerikanischen Westens. Doch seine Kernaussage – ein Wesen frisst sein eigenes bitteres Herz und liebt es – trifft erstaunlich genau den Nerv heutiger deutscher Realitäten.
Warum das Bild denoch aktuell ist:
Konsumrausch als Selbstzerstörung: Das Herz steht für unseren Planeten und uns selbst. Viele verschlingen Ressourcen und eigene Gesundheit im Überkonsum, wissend um die Folgen (Klimakrise, Schulden, Stress). Die „Bitterkeit“ ist der ökologische Fußabdruck, die Leere nach dem Kaufrausch. Das „Ich mag es“? Die Sucht nach Status und kurzem Kick.
Digitale Wüste & Einsamkeit: Cranes Ödland findet heute – so scheint es mir – im Digitalen statt. Ständig vernetzt, aber zutiefst isoliert: Der endlose Social-Media-Konsum, der Jagd nach Likes, die Informationsflut. Bitter? Ja (Druck, Mobbing, Überforderung). Aber süchtig machen sie trotzdem: „Es ist mein Feed, mein Profil, mein Herz.“
Burnout: Herzfressen als Leistungswahn: Deutschland kämpft mit einer mentalen Gesundheitskrise. Burnout und Depressionen grassieren. Das „Herz verzehren“ symbolisiert das Ausbrennen – angetrieben durch Leistungsdruck und die Unfähigkeit abzuschalten. Paradox: Man leidet, sieht es aber oft als Zeichen von Engagement.
Desillusionierung: Die gescheiterte „Frontier“: Wie einst der „American Dream“ zerfällt heute Vertrauen in Politik und Gesellschaft. Wirtschaftliche Ängste (Abstieg, Inflation) und politische Frustration schaffen innere Wüsten. Der Versuch, diese Leere mit Materiellem zu füllen, wird selbst zur zerstörerischen Geste.
Die Rolle des Beobachters: Wir alle?
Die Passivität des Sprechers – er sieht zu und fragt nur – spiegelt gesellschaftliche Apathie wider: Gleichgültigkeit gegenüber Umweltzerstörung oder sozialem Leid, trotz sichtbarer „Bitterkeit“. Und die Schlüsselfrage des Gedichts („Ist es nicht unrecht?“) trifft uns: Sind wir das Wesen? Teil des Problems durch unser Verhalten (Konsum, Bequemlichkeit), das wir eigentlich verurteilen?
„In the Desert“ ist eine zeitlose Parabel. Cranes Bild vom herzfressenden Wesen in der Wüste entlarvt präzise moderne deutsche Phänomene: zerstörerischen Konsum, digitale Vereinsamung, Burnout-Kultur und politische Resignation. Die Wüste als Sinnbild innerer Leere ist heute – im Zeitalter der Fragmentierung und digitalen Entfremdung – real.
Nachfolgend eine Spielerei, das Gedicht zu übertragen – noch nicht zufriedenstellend:
Herzschlund (nach Crane)
(Die Stimmen flackern wie ein defekter Pixelstrom)
I.
Wüste 2.0:
— Feed statt Sand
— Klick statt Schritt
(die Dünen: endlose Timeline)
Im Bauch des Browsers:
Ein Wesen frisst
sein Herz. Bitter?
Ja.
Ich mag es.
(Es schmeckt nach… Algorithmus)
II.
Konsum:
Das Herz — ein Planet
zerschreddert in Sale-Logos
„50% Rabatt auf Untergang“
Wir kauen Plastikherz
schlucken CO2-Bitterkeit
Und lieben den Geschmack
weil er kurz nach Zucker schmeckt
III.
Burnout:
Montag bis Frei:
Herz als Akku
leergebrannt
rot blinkend
(Kollege sagt: „Respekt! Volle Leistung!“)
Wir beißen weiter
Zähne knirschen auf eigenem Muskel
IV.
Beobachter:
„Ist es nicht unrecht?“
(fragt der Spiegel im Bio-Supermarkt)
Meine Hand scrollt weiter
Meine Lippen schweigen
Das Herz — ist es meins?
Oder nur ein Deepfake?
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