Annäherung an die DDR-Kultur: Vier und mehr Perspektiven | Als Ostwestfale nähere ich mich der ehemaligen DDR durch die Erzählungen meiner Schwiegereltern – durch Fragmente, Erinnerungen, durch das, was in Familiengesprächen aufblitzt. Was mir dabei immer deutlicher wird: Die Kulturlandschaft der DDR war trotz aller Zensur erstaunlich reichhaltig, vielschichtig und widerständig.
Die Kultur der DDR entfaltet sich in einem Geflecht von Literatur, bildender Kunst und Graphik, dessen Verbindungen oft überraschend und aufschlussreich sind. Dieses Projekt nähert sich diesem kulturellen Raum über verschiedene Zugänge: durch die Buchillustration mit ihren vielfältigen künstlerischen Handschriften, durch die lyrischen und essayistischen Arbeiten Adolf Endlers, dessen Notate und Gedichtbände Einblicke in ein dichtes Netzwerk von Künstlerpersönlichkeiten bieten, sowie durch Wolfgang Mattheuer, der als Maler, Graphiker und Autor die Grenzen zwischen den Kunstformen durchlässig machte.
Ausgangspunkt war die Buchillustration – ein Feld, in dem sich künstlerische Eigenständigkeit und literarische Interpretation begegneten, und das ich auf meinem Blog ersatzgestalt.de bereits rudimentär zu erfassen versucht habe. Von dort führte der Weg zu Adolf Endler, dessen Texte nicht nur eigenständige literarische Werke sind, sondern zugleich als Wegweiser durch die Kulturlandschaft der DDR dienen. Seine Aufzeichnungen und Gedichte dokumentieren Begegnungen, Einflüsse und Positionen und ermöglichen so, weitere Stimmen und Perspektiven zu entdecken.
Wolfgang Mattheuer erweitert diesen Blickwinkel durch seine druckgraphischen Arbeiten und seine Äußerungen zur eigenen Kunst. In seinem Werk verbinden sich bildnerisches Denken und sprachliche Reflexion zu einer eigenständigen Ausdrucksform.
Weibliche Stimmen ergänzen
Doch Endler und Mattheuer sind zwei Männer, und die DDR war auch ein Land, in dem Frauen einen bedeutend höheren gesellschaftlichen Stellenwert hatten als im Westen. Ihre Stimmen dürfen in dieser Betrachtung nicht fehlen. Deshalb suche ich nach weiblichen Perspektiven von vergleichbarer Bedeutung, auch wenn diese Bedeutung sich anders manifestiert haben mag – leiser vielleicht, subversiver, oder gerade in ihrer Alltäglichkeit radikaler.
Schriftstellerinnen mit dokumentarischem Material
Christa Wolf – Ihre Tagebücher und Essays, besonders „Ein Tag im Jahr“, bieten unschätzbare Einblicke. Ihre ambivalente Position zwischen Systemkritik und -nähe macht sie zur idealen Chronistin der Widersprüche.
Brigitte Reimann – Ihre posthum veröffentlichten Tagebücher sind von außerordentlicher Offenheit und Unmittelbarkeit. In Hoyerswerda und Neubrandenburg bewegte sie sich in Künstlerkreisen und dokumentierte die Kluft zwischen sozialistischem Ideal und gelebter Realität ohne Beschönigung.
Maxie Wander – Mit „Guten Morgen, du Schöne“ schuf sie ein dokumentarisches Werk über Frauenleben in der DDR, das zum kulturellen Ereignis wurde und weibliche Lebenswelten aus erster Hand zeigt.
Bildende Künstlerinnen
Ruth Wolf-Rehfeldt – Ihre Typewritings entstanden im Verborgenen, jenseits offizieller Kunstkanäle. Sie steht für die „andere“ Kunstszene, die experimentelle, internationale Verbindungen suchende Untergrund-Avantgarde.
Cornelia Schleime – Malerin und Autorin, Teil der legendären Prenzlauer-Berg-Szene. Ihre Biografie ist kompliziert, durchzogen von Stasi-Verstrickungen, und gerade deshalb aufschlussreich für die Grauzonen des kulturellen Lebens.
Angela Hampel – Als Grafikerin und Illustratorin arbeitete sie für DDR-Verlage und verkörpert jene Verbindung von Kunst und angewandter Gestaltung, die für das illustrierte Buch so charakteristisch war.
Illustratorinnen
Nuria Quevedo – Ihre poetischen, unverwechselbaren Illustrationen prägten zahlreiche Bücher und zeigen, wie sich künstlerischer Eigensinn auch in offiziellen Verlagsstrukturen behaupten konnte.
Ein assoziatives Durchqueren
Die Reihe Poesiealbum, in der Lyrik und Graphik von DDR-Autoren und Künstlern in kompakter Form als Einzelausgaben erschienen, bildet einen weiteren Strang dieser Auseinandersetzung. Diese schmalen Hefte dokumentieren die Zusammenarbeit zwischen Dichtern und bildenden Künstlern und zeigen, wie Text und Bild in einen Dialog treten konnten.
Die Rubrik verfolgt keinen chronologischen oder systematischen Ansatz, sondern folgt den Verbindungslinien, die sich aus der Lektüre und Betrachtung selbst ergeben – ein assoziatives Durchqueren einer Kulturlandschaft, bei dem ein Name zum nächsten führt, ein Bild auf einen Text verweist, eine Graphik zu einem Gedicht.
Was hier entsteht, ist kein Überblick, sondern eine Sammlung von Entdeckungen: Künstler, Autoren, Graphiker, deren Arbeiten sich gegenseitig erhellen und die zusammen ein Bild kulturellen Schaffens unter spezifischen historischen Bedingungen zeichnen.
Titelfoto: Robert Wiedemann auf Unsplash
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Ein Zimmer für sich allein
3–5 minutesEine Begegnung mit Virginia Woolf über Umwege – Ausgangspunkt: Eine Lithographie von Wolfgang Mattheuer Manchmal führen merkwürdige Wege zu einem Text. In meinem Fall begann es mit einer Lithographie des DDR-Künstlers Wolfgang Mattheuer in dem Band „Äußerungen“. Zu finden ist der Druck vor dem ersten Texteintrag, trägt den Titel „Abendliches Studium“ und stammt aus dem…
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Wolfgang Mattheuer als Erzählanlass – Werkstattbericht
6–8 minutesWarum ich zögere | Ich lese Wolfgang Mattheuers Buch Äußerungen und zögere – immer wieder. Nicht, weil mich seine Bilder kalt lassen – im Gegenteil. Sie ziehen mich an, sie reizen mich, sie erzählen mir Geschichten, bevor ich selbst anfange zu schreiben. Aber genau da beginnt mein Zögern: Darf ich das überhaupt? Darf ich als…
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Wolfgang Mattheuer – Äußerungen
3–4 minutesDas Buch versammelt verschiedene Texte und Grafiken von Wolfgang Mattheuer. Titel und Gestaltung deuten an, dass es sich um eine Kombination von visuellen und verbalen Äußerungen handelt – Bild und Wort werden nebeneinander gestellt, zum Teil korrespondierend. Die Grafiken spiegeln das typisches Œuvre Mattheuers wider: Arbeiten auf Papier, Druckgrafiken, Holzschnitte / Linolschnitte / Lithographien. Die…
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Ursula Mattheuer-Neustädt und Wolfgang Mattheuer Stiftung
1–2 minutesDie Ursula Mattheuer-Neustädt und Wolfgang Mattheuer Stiftung wurde 2006 von der Künstlerin Ursula Mattheuer-Neustädt ins Leben gerufen, um das künstlerische Erbe ihres verstorbenen Ehemannes, des renommierten Malers und Grafikers Wolfgang Mattheuer, zu bewahren. Die Stiftung hat ihren Sitz in Leipzig, im ehemaligen Wohn- und Arbeitshaus des Künstlerpaares in der Hauptmannstraße 1. Ziel der Stiftung ist…
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Weg in die Wische – bewegend gelesen
6–9 minutesDie Wische ist eine einzigartige Landschaft im Nordosten der Altmark in Sachsen-Anhalt, die von ihrer Geschichte als ehemaliges Überflutungsgebiet der Elbe geprägt ist. Sie ist bekannt für ihre weiten, flachen Flächen, die besonders in den nassen Jahreszeiten eine Herausforderung für Reisende darstellen können. Adolf Endler beschreibt in seinem Text aus dem Jahr 1958 eindrücklich die…
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Adolf Endlers Erinnerungen an die Entstehung seines Debüts „Weg in die Wische“
1–2 minutesAdolf Endler beschreibt in seinem Text die Entstehung seines ersten Buches, „Weg in die Wische“, das 1960 erschien. Dabei schildert er nicht nur die landschaftlichen Eindrücke der Wische, sondern auch seine äußerst kritische und ablehnende Haltung gegenüber dem Werk. Endler beginnt mit einer stimmungsvollen Beschreibung der altmärkischen Wische im Spätherbst. Er schildert die matschigen, unwegsamen…
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Warum Adolf Endler lesen?
5–7 minutesAdolf Endler (1930-2009) war eine singuläre Erscheinung in der deutschsprachigen Literatur, ein Dichter, Essayist und Prosaist, dessen Werk sich der Kategorisierung oft entzieht. Gerade der Gesprächsabend „dies sirren“ mit Renatus Deckert, benannt nach einem seiner zentralen Gedichte, ist ein guter Ansatzpunkt, um sich ihm zu nähern, denn Endler war ein Meister des Gesprächs, der Anekdote…
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Adolf Endlers Gedicht „Dies Sirren“
2–4 minutesAdolf Endlers Gedicht „Dies Sirren“ aus dem Jahr 1971 wirkt auf den ersten Blick wie ein surrealistisches Rätsel. Doch hinter der grotesken Szenerie dieser nur vier Zeilen verbirgt sich eine vielschichtige Auseinandersetzung mit historischen Traumata und politischer Ohnmacht. Basierend auf biografischen und literaturkritischen Quellen, bietet es Einblicke in ein rätselhaftes Meisterwerk, das zu den Schlüsseltexten…
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Adolf Endler – Leben zwischen Widerstand und Sprachrebellion
2–3 minutesAdolf Endler (1930–2009) widersetzte sich stets geradlinigen Lebenserzählungen. „Es schien ihm ganz unmöglich und falsch, sein Leben, das in seinen Augen eher einem Zickzackkurs folgte, als einen runden Bogen zu erzählen“, notiert der Klappentext von „Dies Sirren“, seinen autorisierten Gesprächen mit Renatus Deckert. Diese Unangepasstheit prägte den Autor vom rheinischen Kriegskind zur prägenden Figur des…
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Adolf Endlers Welten entdecken
2–3 minutesIch besuchte einen Schreibworkshop von Renatus Deckert im Lüneburger Literaturhaus. Dabei erwähnte er seine Arbeit als Herausgeber. Als regelmäßiger Leser seines Newsletters ‚Wolken und Kastanien‘ schätze ich seine Texte und suchte daher nach seinen Büchern. So fand ich ‚Dies Sirren‘: Gespräche mit Adolf Endler. Dieser Autor, ist mir völlig fremd. Beim Lesen des Klappentextes entstand…


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