Wiederaufbrauch nach Ratlos - Jürgen Völkert-Marten

Wenn die Hände denken.

Du musst deinem Leben Hände geben.

Das Gedicht „RATLOS„von Jürgen Völkert-Marten schlägt mir entgegen wie eine kalte Wand. Eine Litanei des Erstickens: Strick. Pistole. Schlaftabletten. Eine Aufzählung von Auswegen, die keine sind, sondern Sackgassen, Abgründe. Ausreißen. Neu anfangen. Schluß machen. Leben fortwerfen. Die Verzweiflung ist greifbar in ihrer sprachlichen Kargheit. Keine Bilder, nur nackte Substantive, Verben des Endens oder der Ohnmacht: resignieren aufgeben. Suicid. ein Ende machen. Selbst das vermeintlich Tröstliche – weiter hoffen, weiter suchen, auf das Gute hoffen, beten – wirkt wie abgenutzte Münzen in der Hand eines Verhungernden, kraftlos gegen die erdrückende Last der Leere. Es endet mit der ratlosen, in den Raum geworfenen Frage: Was? Eine Frage, die kein Echo findet, sondern im Vakuum der eigenen Gedanken verhallt.

Diese Ratlosigkeit ist ein Gefängnis. Und das Gefängnis ist der Kopf. Das Gedicht zeigt es unerbittlich: Es ist ein Dokument des Grübelns, des kreisenden, nagenden, sich selbst verzehrenden Denkens. Ein Versuch, mit dem Verstand etwas zu lösen, was der Verstand allein nicht lösen kann – weil er selbst Teil der Falle ist. Jedes Wort darin ist ein Gedankenstein, gewälzt, gedreht, umsonst. Der Kopf sucht nach Lösungen, findet aber nur Endpunkte oder leere Versprechen. Er wird zum Ort der Qual, in dem sich die gleichen Wege immer wieder ablaufen: Strick, Tablette, Hoffen, Verzweifeln. Fragezeichen.

Aber ich sitze hier. Und in meinen Händen liegt ein Klumpen Ton. Kühl, feucht, erdig. Widerständig und doch formbar. Oder da ist die Linolplatte, glatt und bereit, unter dem Schnitzmesser Spuren zu empfangen. Oder das raue Papier, das auf den Strich des Stiftes wartet. In der Ergotherapie habe ich gelernt: Es gibt einen Ausweg aus dem Gedankengefängnis. Er führt nicht durch eine weitere Tür im Kopf, sondern hinaus – in die Welt der Hände, des Materials, des Machens.

Während der Kopf in „RATLOS“ nach radikalen Schnitten sucht (Schluß machen, Leben fortwerfen), vollziehe ich einen anderen Schnitt: Ich schneide Linol. Nicht durch Gedanken, sondern durch eine widerständige Platte. Das Messer erfordert Aufmerksamkeit, Kraftdosierung, Führung. Es ist ein physischer Dialog. Jeder Schnitt ist eine Entscheidung, die sichtbar wird, die das Material unwiderruflich verändert. Und mit jedem Schnitt, mit jedem Druck des Werkzeugs, verliere ich den Zugriff auf das Sinnieren. Das kreisende „Was?“ des Gedichts wird übertönt vom rhythmischen Kratz-Schab des Messers, vom Knirschen des Materials. Der Kopf, so besetzt mit der Führung der Hand, dem Lesen der Linie, der Antizipation des Drucks, findet keine Kapazität mehr für die alte, lähmende Litanei. Er wird still. Nicht durch Willensakt, sondern durch die Notwendigkeit der Handlung.

Oder der Ton. Dieses urtümliche Material, das nach Erde riecht, das unter den Fingern nachgibt und doch seinen eigenen Willen behält. „Leben fortwerfen“ – ja, manchmal werfe ich tatsächlich einen missratenen Ansatz fort. Aber nicht ins Nichts. Zurück in die Masse. Um ihn neu zu kneten, neu zu beginnen. „Neu anfangen“ – das geschieht hier nicht als großer, beängstigender Entschluss, sondern als selbstverständlicher Akt des Arbeitens. Der Ton verzeiht. Er lädt ein zum Probieren, zum Verwerfen, zum Wiederaufnehmen. In der Berührung, im Druck, im Ziehen und Formen mit den Händen, kommt vieles von sich aus wieder in Fluss. Nicht das große Leben sofort. Aber ein kleiner Strom: Der Rhythmus des Knetens. Die Freude über eine gelungene Rundung. Die Konzentration auf das Hier und Jetzt des Materials. Die Gedanken, die eben noch wie gefangene Vögel gegen die Schädeldecke schlugen, setzen sich leise. Sie beobachten vielleicht noch, aber sie herrschen nicht mehr. Sie haben keine Macht mehr in diesem Raum, der vom Tun der Hände definiert wird.

Es ist kein Eskapismus. Es ist eine andere Form des Seins, des Denkens sogar. Ein Denken, das nicht in Begriffen gefangen ist (Strick, Ende, Hoffnung), sondern in Bewegungen, Widerständen, Temperaturen, Formen. Die Hände „denken“ das Material. Sie erfahren Lösungen nicht abstrakt, sondern haptisch. Sie lernen Geduld nicht als Konzept, sondern als Notwendigkeit beim Trocknen des Tons oder beim präzisen Schnitt. Sie erfahren „weiter machen“ nicht als leere Pflicht, sondern als natürliche Folge des begonnenen Werks. Das Material stellt Fragen, die der Kopf so nicht stellen kann: Wie viel Druck vertrage ich? Wohin willst du mich führen? Was bin ich im Kern?

Und das „beten“ aus dem Gedicht? Manchmal, wenn ich tief im Schaffensfluss bin, wenn Hand und Material eins werden und der grübelnde Verstand schweigt, kommt etwas in der Nähe davon. Eine Stille, die nicht leer, sondern erfüllt ist. Eine Hingabe an den Prozess. Vielleicht ist das Gebet der Hände kein Flehen ins Leere, sondern ein Gespräch mit dem Stoff des Lebens selbst – ein Gespräch, das Antworten gibt, nicht in Worten, sondern in Formen, in Spuren, im Gefühl des Geschaffenen unter den Fingern.

Ratlos? Ja, das Gedicht spricht eine Wahrheit aus. Der Kopf allein, in seiner endlosen Schleife des Analysierens und Urteilens, führt oft genau dorthin: in die Lähmung, in die radikale Verzweiflung oder in die resignative Leere. Aber „RATLOS“ zeigt nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist der Tonklumpen, die Linolplatte, der Stift. Sie sind die Einladung, das Gefängnis des reinen Denkens zu verlassen. Nicht um das Denken zu verleugnen, sondern um ihm einen Partner zu geben: die Intelligenz der Hände, die Weisheit des Materials, die Poesie des Machens.

Die Antwort auf das „Was?“ des Gedichts liegt vielleicht nicht in einer großen Erklärung, sondern in einer einfachen, tiefen Handlung: Greifen. Formen. Schneiden. Spuren hinterlassen. Die Ratlosigkeit löst sich nicht im Kopf auf. Sie löst sich auf im Fluss des Tuns, im Dialog zwischen Hand und Material. Dort, wo das Leben nicht fortgeworfen, sondern geformt wird. Ein Klumpen nach dem anderen. Ein Schnitt nach dem anderen. Bis das „Was?“ verstummt und nur noch das Machen spricht.


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