Wie wird Beton zu Gras | Otto F. Walter

Otto F. Walter – Wie wird Beton zu Gras

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Otto F. Walters Roman Wie wird Beton zu Gras? (erstmals 1979 erschienen, hier in der Rororo-Taschenbuchausgabe von 1988 vorliegend) wird zur ökologischen Literaturbewegung der späten 1970er Jahre gezählt. Im Zentrum steht der Stadtplaner Viktor B., ein zerrissener Antiheld, der täglich an der Transformation natürlicher Landschaften in betonierte Stadt- und Industrieflächen mitwirkt. Sein Beruf steht im fundamentalen Konflikt mit seinem wachsenden ökologischen Gewissen, das ihm sein eigenes Handeln als Vernichtungsprozess vor Augen führt: „Jeder Quadratmeter Beton, den ich plane, ist ein Stück ersticktes Leben“. Dieser innere Monolog Viktor B.s verdichtet den Kernkonflikt des Romans: den Widerspruch zwischen  profitgetriebener Urbanisierung und der Sehnsucht nach dem Erhalt – oder gar der Wiederherstellung – von Natur.

Mehr als Umweltkritik: Systemfragen und Entfremdung
Walter geht über reine Umweltanklage hinaus. Sein Roman verbindet die Kritik an der Zerstörung natürlicher Räume eng mit einer Analyse der sozialen und psychischen Entfremdung des modernen Menschen. Die „expandierende Stadtlandschaft“ wird nicht als Fortschritt, sondern als „Krebsgeschwür, das alles Grüne verschlingt“ entlarvt – eine scharfe Abrechnung mit neoliberalen Wachstumsdogmen und ihrer blinden Verehrung des Technischen. Die titelgebende Frage „Wie wird Beton zu Gras?“ wird zur zentralen, fast utopischen Metapher: Die Suche nach Versöhnung von Zivilisation und Natur, nach Wegen der Regeneration und nach der Überwindung einer als zerstörerisch erkannten Logik.

Verortung in der ökologischen Literaturbewegung

Wie wird Beton zu Gras? ist ein archetypisches Werk der aufkommenden  ökologischen Literatur (Ökoliteratur) der 1970er/80er Jahre. Diese Bewegung reagierte auf die sichtbar werdende Umweltkrise (Ölschocks, Waldsterben, Atomdebatte) und intellektuelle Impulse wie den Bericht Die Grenzen des Wachstums (Club of Rome, 1972). Ihr zentrales Anliegen war es, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, deren Ursachen in ungebremstem Industrialismus, Kapitalismus und technokratischem Fortschrittsglauben, und die Entfremdung des Menschen von der Natur literarisch zu verarbeiten und anzuprangern. Neben Walter gehörten Autoren & Autorinnen wie Günter Grass (Der Butt, 1977), Max Frisch (Der Mensch erscheint im Holozän, 1979), Alexander Kluge (mit seiner dokumentarischen Kritik an Planungswahn), Christa Wolf (Störfall, 1987 als Reaktion auf Tschernobyl) und Volker Braun (DDR-Kontext) zu den wichtigen Stimmen. Diese Literatur war eng verwoben mit der erstarkenden Umweltbewegung (Gründung von Greenpeace Deutschland 1980, der Partei „Die Grünen“ 1980, Anti-Atomkraft-Protesten) und leistete Bewusstseinsarbeit, indem sie ökologische Fragen aus dem Fachdiskurs holte und emotional wie intellektuell erfahrbar machte.

Verbindungen zum Nature Writing: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Thematisch gibt es durchaus Schnittmengen zwischen Walters Roman und dem Nature Writing, das sich der literarischen Erkundung des Mensch-Natur-Verhältnisses widmet. Beide teilen das tiefe Bewusstsein für den Wert unversehrter Natur und die fundamentale Kritik an ihrer Instrumentalisierung und Zerstörung. Viktor B.s ethische Reflexionen über „ersticktes Leben“ unter dem Beton entsprechen der Grundhaltung des Nature Writing, Natur als eigenwertiges Lebenssystem zu begreifen.

Doch es gibt deutliche Unterschiede:

Fokus und Setting: Klassisches Nature Writing (etwa bei Thoreau oder zeitgenössisch bei Robert Macfarlane) konzentriert sich oft auf die ästhetische oder spirituelle Erfahrung „wilderer“, nicht-urbaner Naturräume (Wälder, Berge, Moore). Walter hingegen stellt explizit die zerstörte, urbanisierte und industrialisierte Landschaft ins Zentrum. Sein Schauplatz ist die verbaute Peripherie, das vom Menschen überformte und geschädigte Terrain. Die Frage nach dem „Gras unter dem Beton“ ist eine nach der Natur im und trotz des Zivilisationsraums.

Ästhetik und Ton: Nature Writing tendiert oft zu kontemplativer, lyrischer oder essayistischer Betrachtung. Walters Roman hingegen ist von einem düsteren Realismus und einer politisch-dystopischen Grundstimmung geprägt. Er integriert dokumentarische Elemente (Protokolle, Zeitungsausschnitte) und zeigt explizit gesellschaftliche Machtstrukturen (Industrie, Politik) und Konflikte (z.B. Polizeigewalt bei Umweltprotesten).

Systemische Kritik: Während Nature Writing oft das Individuum in der Natur fokussiert, analysiert Walter die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systeme, die Umweltzerstörung hervorbringen. Sein Werk steht damit näher am politischen oder sozialökologischen Nature Writing, das ökologische Fragen mit Kapitalismuskritik verbindet (ein Ansatz, der heute in der Klimaliteratur zentral ist). Walter erweitert das Nature Writing um eine dezidiert soziopolitische Dimension.

Der Roman löste bei seinem Erscheinen kontroverse Debatten aus. Gelobt wurde sein schonungsloser Realismus und die komplexe Erzählstruktur, kritisiert wurde teils sein vermeintlicher „Pessimismus“.

Unabhängig davon etablierte er sich schnell als Schlüsseltext der Umweltliteratur. Die Rororo-Ausgabe von 1988 trug dazu bei, ihn im Kontext des durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986) massiv gestiegenen Umweltbewusstseins einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die titelgebende Frage nach der Rückverwandlung von Beton in Gras ist heute, im Zeichen von Flächenfraß, Klimakrise und Renaturierungsdebatten, aktueller denn je. Walter zeigt mit seinem Roman nicht nur die Abgründe einer zerstörerischen Praxis, sondern hält auch die – wenn auch fragile – Hoffnung auf Wandel und Regeneration wach. Wie wird Beton zu Gras? bleibt somit auch über 40 Jahre nach Veröffentlichung aktuell.

LektüreNotizen

Titelfoto: Andras Barta


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