foto jan-kubita - pina bausch - tanztheater

Der andere Mensch

Ille Chamier beschreibt Pina Bausch in SETZ DICH HIN UND LÄCHLE (1979) als jemand, „der bei sich selber bleibt und sich dabei rückhaltlos verausgabt“ – sie ist ganz bei sich und zugleich vollkommen offen für andere. Ihr Publikum sieht sie nicht als bloße Zuschauer, sondern als „der andere Mensch“, als Teil eines gemeinsamen Menschseins. Auch sich selbst versteht sie als „eine aus dem Publikum“.

Ihr künstlerischer Ansatz ist radikal persönlich: Sie besucht so viele ihrer Aufführungen wie möglich, um das Geschehen immer neu zu erleben – „sie sieht den Tänzern zu“, als wäre sie selbst nicht Schöpferin, sondern Betrachterin des Geschehens. Was auf der Bühne erscheint, ist das, was sie sieht und empfindet. Es geht ihr um das reale emotionale Erleben, nicht um Ästhetik im klassischen Sinn.

Bausch zeigt auf der Bühne das Scheitern menschlicher Kommunikation – die Unfähigkeit, einander zu erreichen trotz „Sehnsucht, Trauer“, das Verwechseln von Gier mit Liebe, die Ambivalenz von Gewalt und Zärtlichkeit. Die Menschen in ihren Stücken sind verletzlich, unvollkommen, aber „voller Leben“, mit einem Stolz, der auch „Mut und kindhafte Freude“ bedeutet.

Ihr künstlerischer Stil lässt sich keiner bestimmten Kategorie zuordnen – weder klassisches Ballett noch reines Schauspiel oder Bewegungstheater. Sie mischt Elemente aus Zirkus, Varieté, Tiefenpsychologie oder Comic – was Kritiker irritiert, sie selbst aber „mit einem Achselzucken“ quittiert. Ihr Ziel ist nicht Form, sondern Ausdruck, Menschlichkeit. Denn: „Sie verweigert, den Menschen in eine Form zu stilisieren.“

Chamier beschreibt Bauschs Sprache als sparsam, aber klar. Ihre Tänzer verstehen sie „nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Körper“. Diese Verbindung von Denken und Fühlen erzeugt eine tiefe emotionale Wirkung. Ihre Arbeiten berühren das Unbewusste, zeigen das Rätselhafte und Unerklärliche menschlichen Verhaltens.

Im Zentrum ihrer Kunst steht die Beziehung – zwischen Menschen, zwischen Darsteller und Zuschauer. Diese Beziehung ist intim, oft verstörend. „Wir sitzen im Zuschauerraum wie vor einem Spiegel“, heißt es, in dem wir uns selbst erkennen – mit all unseren Unsicherheiten, Ängsten, Abgründen.

Ihre Tänzer verkörpern das Echte, das Unperfekte, das Zweifelnde – sie sind schön „auf ihre eigene Weise“. Sie dürfen scheitern, sie dürfen suchen. Ihr Tanz ist ein Tasten, ein Zupacken, das auch verletzen kann. Doch sie geben dabei „nichts von sich weg“, sondern wachsen im Ausdruck.

Bausch selbst ist überall da zu Hause, „wo sie mit Menschen umgeht, in ihrer Arbeit“. Ihre Kunst entsteht in der Begegnung – und ihre Werke zeigen das Menschsein in all seiner Widersprüchlichkeit, Tiefe und Unbegreiflichkeit.


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