starr vor Glück - Ille Chamier - Tagtexte

starr vor glück

Annähernd gelesen | Dieses Gedicht hat Ille Chamier bei der Poetischen Begegnung (12) mit Hans Thill zum Abschluss vorgetragen. Abgedruckt wurde es in Tagtexte und Bekannt trifft Unbekannt – Ed. 2

1. „ich wurde wach“

Das Gedicht beginnt mit dem Erwachen – also ein Moment zwischen Schlaf und Wachsein. Kein normales „Ich wachte auf“, sondern: „Ich wurde wach“ – passiv, als wäre es geschehen, nicht getan. Vielleicht ein besonders zarter, bedeutungsvoller Moment.

2. „der Tag lag hinter mir.“

Jetzt wird’s verwirrend – eigentlich müsste der Tag vor einem liegen, wenn man gerade aufwacht. Aber hier liegt er hinter der Sprecherin – vielleicht meint sie nicht das Aufwachen am Morgen, sondern ein inneres, bewusstes Erwachen nach einem langen Tag. Also ein Erwachen aus dem Erleben, nicht aus dem Schlaf. Oder es ist ein Tagtraum, eine Erinnerung. Das bleibt offen – aber spannend.

3. „floß mir vom Kopf wie eine Schleppe“

Der Tag als Kleidungsstück, das ihr hinten am Kopf herunterfließt. Elegant, vielleicht schwer, bildlich sehr weiblich, fast königlich. Der vergangene Tag hängt noch an ihr, aber er fließt ab – das klingt nach Loslassen. Oder bleibt er in der textilen Struktur gefangen, wird aufgehalten?

4. „viele Dinge standen darauf, liebe Menschen / winzig die ich kannte, Häuser mit lichtblinkenden / Fenstern, ein Wald, sehr dunkel“

In der Schleppe, also im „Nachhall“ des Tages, stecken Erinnerungen: Menschen, kleine Dinge, Häuser, Natur. All das ist klein, zart – fast wie ein Spielzeug- oder Modellwelt. Und geheimnisvoll: Ein dunkler Wald gehört dazu. Die Perspektive ist distanziert – sie schaut auf den Tag wie auf eine Miniatur. Vielleicht ein Gefühl von Überforderung oder Überwältigung? Im Kopf habe eine Szenerie wie im Miniatur Wunderland.

5. „ich rührte mich nicht, setzte mich nicht auf / würde ich den Kopf rücken“

Jetzt wird es sehr ruhig, fast wie Erstarrung. Sie liegt da – bewegungslos. Und wenn sie nur den Kopf bewegen würde, dann würde etwas passieren. Da spürt man eine große Spannung, als hielte sie einen ganz besonderen, empfindlichen Moment fest.

6. „wußte ich / alles sanft gezogen / müßte fallen“

Hier ist das emotionale Zentrum: Sie weiß (instinktiv), dass alles, was sie da gerade „hält“, sofort fallen würde, wenn sie sich bewegt. Alles ist „sanft gezogen“ – wie ein feines Tuch, das lose gespannt ist. Das Glück (aus dem Titel!) ist vielleicht genau dieser fragile Moment: ein Gleichgewicht aus Stille, Erinnerung und Empfindung, das nur hält, solange sie sich nicht bewegt.

Was könnte das bedeuten?

Das Gedicht beschreibt wahrscheinlich einen privaten Moment innerer Klarheit oder Ruhe – ein Zustand, in dem jemand still daliegt, rückblickt auf Erlebtes (vielleicht einen ganzen Tag oder ein ganzes Leben), und diesen Moment des Bewusstseins nicht stören will.

Der Titel „starr vor Glück“ bringt das wohl auf den Punkt:
Nicht „überschwänglich“ oder „jubelnd“ vor Glück.
Sondern: still, unbewegt, fast ehrfürchtig.
Vielleicht ist das Glück hier nicht laut – sondern leise und verletzlich.

Was geschieht nach der Starre?

Direkt ausgesprochen: nichts.
Das Gedicht bricht dort ab, wo eine Entscheidung hätte fallen können. Es bleibt im Moment davor. Aber gerade diese Grenze, dieser nicht vollzogene Übergang, ist vielleicht der spannendste Punkt des Textes.

Gibt es Hinweise oder Andeutungen?
Ja – aber sie sind flüchtig. Schauen wir auf zwei Dinge:

1. „müßte fallen“

Die letzte Zeile trägt eine doppelte Spannung:
„müßte“ ist ein Konjunktiv, also ein Möglichkeitsmodus. Das bedeutet: Es ist nicht gefallen – aber es würde, wenn sie sich bewegt hätte.
Das zeigt: Sie steht vor einer Entscheidung. Bewegung bedeutet Verlust, Veränderung. Stillstand bedeutet Bewahrung, aber auch Festhalten. Diese Spannung ist noch nicht aufgelöst – und das lässt Raum für das, was danach kommt. Vielleicht wird sie sich doch bewegen. Vielleicht bleibt sie noch.

2. Die Sprache des Vergehens

Der Tag fließt ab, der Moment ist flüchtig. Das Gedicht vermittelt: Alles ist im Übergang. Auch wenn sie sich noch nicht bewegt hat – alles um sie herum tut es bereits.
Der Tag „floss“, die Bilder „standen“ auf ihm, aber nur „winzig“. Der Wald ist „sehr dunkel“ – vielleicht ein Symbol für das Unbekannte, das vor ihr liegt. Diese Worte tragen leise mit sich: Etwas wird sich verändern müssen. Die Starre ist kein Zustand für immer. Eher ein kurzes Innehalten.

Das Glück, vor dem man starr wird, will ja nicht immer bleiben – sondern gelebt oder verloren werden. Ich bin lieber zufrieden als glücklich. Wie der Moment dann wohl aussähe?


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