Roswitha Quadflieg - Traumalphabet - Eine Bibliogenie

Die Bibliogenie – Eine Skizze der Bücherzeugung nach Georg Christoph Lichtenberg

Im späten 18. Jahrhundert, als das gedruckte Wort in Europa zu einer Flut anwuchs, entwarf Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) ein kleines, satirisch zugespitztes Gedankenspiel: die Bibliogenie, die „Zeugung der Bücherwelt“. Er verstand darunter eine Art Naturgeschichte der Entstehung von Büchern – nicht im Sinne von Papier, Druck und Bindung, sondern als geistiger Fortpflanzungsprozess.

In seinen Sudelbüchern notierte Lichtenberg das Bild einer Bücherwelt, in der Bände gleichsam aus anderen Bänden hervorgehen. So wie in der Natur Lebewesen aus Lebewesen entstehen, so gebären in der Gelehrtenrepublik alte Bücher neue. Ein Autor liest, nimmt auf, verändert und formt – und so wird sein Werk zum Kind vieler anderer, zu einem Glied in einer langen, papiernen Ahnenreihe.

Die Metapher folgt einer biologischen Logik: Es gibt fruchtbare und unfruchtbare Bücher, spontane Kreuzungen, Bastarde und Abkömmlinge, die von fernen Vorfahren kaum mehr etwas wissen. Lichtenberg beobachtet dabei nicht nur die Schöpfung aus eigenem Geiste, sondern auch die parasitäre Aneignung, das Umformulieren, Übersetzen, Kommentieren. Er erkennt, dass das meiste Geschriebene in einem ständigen Dialog steht – oder, in seiner Terminologie, in einer fortgesetzten „Fortpflanzung“.

Mehr als zwei Jahrhunderte später greift die Künstlerin und Buchgestalterin Roswitha Quadflieg diesen Gedanken auf. In ihrer Hamburger Raamin-Presse erschien 1984 als 15. Druck das Traumalphabet – eine typographische und bildnerische Arbeit, die sich auf Lichtenbergs „Bibliogenie“ bezieht. Der Bezug ist kein bloßes Zitat: Quadflieg stellt den Traum als Ursprung einer eigenen Text- und Bildwelt dar, die gleichsam nach den Gesetzen der Bibliogenie entsteht. Auch hier entwickeln sich neue Formen aus dem Stoff, der vor ihnen da war – nur dass er diesmal nicht allein aus gelesenen Büchern stammt, sondern aus den inneren Aufzeichnungen des Schlafs.

So öffnet sich der Begriff über die Grenzen der Gelehrtenrepublik hinaus. Die Bibliogenie beschreibt nicht nur den Austausch zwischen Autoren, sondern auch die Verwandtschaft von Vorstellungswelten. Ob auf den Seiten einer Göttinger Notiz oder in der Druckwerkstatt der Raamin-Presse – das Bild bleibt dasselbe: Texte und Ideen pflanzen sich fort, verändern sich, verlieren und gewinnen Eigenschaften, bis sie als etwas Eigenes wieder vor uns stehen.

Roswitha Quadflieg
Traumalphabet. Eine Bibliogenie. Mit 13 Fotos von Jens Rheinländer u. Wolfgang Franz.
ISBN: 3716020796  (ISBN-13: 9783716020791)
Verlag: Arche, Zürich (1988)
107 Seiten mit 13 S/w-Fotos sowie 73 farb. Abb. (Entwürfe, Zustandsdrucke, Traumalphabet).


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