Jane Weis - Sandrine - WORTSCHAU 43

Jane Wels‘ Sandrine

Erinnerungen sind selten linear. Sie flackern, tauchen auf, verschwimmen, brechen ab – und genau dieses Flirren liegt im Text über Sandrine. Ein weibliches Ich spricht, nicht in klaren Linien, sondern in Schichten und Sprüngen.
„Ihr Atem ist so leise wie ein Hauch Gänsedaunen.“ Zeit scheint stillzustehen, nur um im nächsten Moment „ein Hüpfspiel“ zu werden. Orte wechseln abrupt: Paris – London – Germersheim. Rückwärts, vorwärts, zurückspulen.
Sandrine „könnte eine jede sein“. Ihre Identität bleibt offen, verwoben mit Räumen, Erinnerungen, Körperbildern. Ein Fresko, „Schicht um Schicht“ aufgetragen, bei dem Umrisse verschwimmen und neue Konturen erscheinen.
Dieser fragmentarische Text entzieht sich eindeutiger Deutung. Stattdessen verstehe ich ihn als Aufforderung, Einladung, als (männlicher) Leser mitzugehen, eigene Linien zu ziehen, das Schweifen, Springen und Sich-Verlieren mitzuvollziehen.

Dieser kurze Text – veröffentlicht im LiteraturMagazin WORTSCHAU Heft 43 – ist wie folgt eingeleitet:

Dieser Text ist ein Auszug aus ihrem aktuellen Projekt fragmentarischer, nicht-linearer Erinnerungen eines weiblichen Ichs.

Entlang einiger Fragen versuche ich, mich dem Text anzunähern – aus der Perspektive eines männlichen Lesers.

Was ist „das Weibliche“ hier?

Das Weibliche zeigt sich nicht als festgelegtes „Wesen“, sondern eher als ein Fließen, ein Auflösen von Konturen.
Körperlichkeit: Haut, Atem, Mitte, Schichten – der Text bindet Erinnerungen eng an körperliche Wahrnehmungen.
Zeitlichkeit: Es geht nicht um lineare Chronologie, sondern um ein nicht-lineares, assoziatives „Hüpfen“ zwischen Orten und Momenten. Dieses „fragmentarische“ Erinnern wirkt wie ein spezifischer Zugang zur Welt – nicht unbedingt nur weiblich, aber hier wird es aus der Perspektive eines weiblichen Ichs erzählt.
Verschmelzung von Innen und Außen: Räume, Städte, Landschaften gehen in den Körper über („Eine Vorgebirgszone legt sich vor ihr aus, während ihre Mitte sich ins Freie wölbt“).

Das Weibliche könnte also in diesem Text verstanden werden als: Verwobenheit von Körper, Raum und Zeit, als eine andere Form der Orientierung – nicht streng linear, sondern schichtend, atmend, tastend.

Ist mit dem Text eine Kritik verbunden?

Eine explizite Kritik klingt – für mich – nicht durch. Aber unterschwellig könnte man sagen:
Kritik an Linearität: Der Text wehrt sich gegen lineare Zeit, gegen klare Umrisse und Eindeutigkeit. Er zeigt Brüche, Risse, Wiederholungen.
Kritik an Identitätsfestschreibungen: „Sandrine könnte eine jede sein.“ – die Figur bleibt offen, nicht fixiert. Das wirkt wie ein Aufbegehren gegen die Reduktion auf ein klar umrissenes Ich.

Die Kritik ist also eher poetisch als politisch: eine Infragestellung von Klarheit, Festlegung, Chronologie.

Wo setze ich bei diesem Text an? Wie verorte ich ihn?

Literarisch: Er steht in einer Tradition fragmentarischer, experimenteller Texte – etwa im Umfeld moderner Lyrik oder Prosa, die sich von linearer Erzählweise entfernt (assoziativ, collageartig).
Thematisch: Es geht um Erinnerung, Identität, Weiblichkeit, Räume.
Als Leser (m): Ich setze bei den Bildern (Gänsedaunen, Fresko, Hüpfspiel) an, dann bei den Sprüngen zwischen Orten (Paris – Main – London – Germersheim).

Man verortet ihn also zwischen Erinnerungsliteratur, poetischer Prosa und feministischer Schreibpraxis, die das „Ich“ fragmentiert, um es nicht in feste Formen zu pressen.

Gibt es etwas, das beim aktiven Lesen abholt, einlädt?

Ja:
Das Fragmentarische: Du kannst selbst Linien ziehen, Zusammenhänge herstellen – oder auch bewusst unverbunden stehen lassen.
Die Bildlichkeit: Fresko, Vorgebirgszone, Schafe, Hüpfspiel – sie laden ein, deine eigenen Bilder dazu zu setzen.
Die Zeitsprünge: Du kannst selbst mitdenken: warum von Paris nach Germersheim, warum dieses Rückspulen, Vorspulen? Es fordert dein aktives, kreatives Mitspielen.

Das heißt: der Text ist kein abgeschlossener Monolith, sondern eher eine Projektionsfläche – ich fühle mich eingeladen, zu verweben, weiterzuspinnen, vielleicht sogar meine eigenen „Sandrine-Fragmente“ zu entwerfen.

Das Weibliche hier ist kein festes Wesen, sondern eine offene, körperlich-zeitliche Erfahrungsweise. Kritik steckt eher in der Verweigerung linearer, klarer Identitäts- und Erzählformen. Als Leser kann ich den Text nicht einfach „konsumieren“, sondern muss mitarbeiten: Bilder aufnehmen, eigene Linien ziehen, Brüche aushalten. Genau da liegt die Einladung zum aktiven, kreativen Lesen.

Aus dieser Lektüre ist eine Art Fortführung des Textes entstanden – aus männlicher Perspektive.


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