Das Gedicht „Prometheus“ arbeitet mit einer besonderen Erzählsituation: Ein Sprecher wendet sich direkt an den mythischen Titanen selbst. Durch die durchgehende Du-Ansprache entsteht der Eindruck einer unmittelbaren Konfrontation mit der prometheus’schen Figur, die hier nicht nur als literarische Metapher fungiert, sondern als konkreter Gesprächspartner angesprochen wird.
Die Umdeutung des Mythos
Der Text nimmt eine interessante Verschiebung der bekannten Prometheus-Erzählung vor: Statt des gestohlenen Feuers als technischer Errungenschaft bringt dieser Prometheus emotionale Wärme zu den Menschen – „dem Feuer Zuneigung“. Diese Neuinterpretation verleiht dem antiken Stoff eine zeitgenössische, psychologische Dimension. Der Titan wird zum Archetyp des selbstlos Liebenden, der aus eigenem inneren Feuer anderen geben möchte.
Doch diese Gabe stößt auf eine dreifache Steigerung der Ablehnung: „Unverständnis, Undank, Haß“. Die Progression zeigt, wie aus mangelndem Verstehen aktive Feindseligkeit wird – eine bittere Erkenntnis für jeden, der bedingungslos zu geben versucht.
Die zyklische Struktur des Leidens
Das Gedicht entwickelt eine präzise Zeitstruktur zwischen regenerativer Nacht und zermürbenden Tagen. In der nächtlichen Einsamkeit schöpft Prometheus Kraft, die der folgende Tag wieder aufzehren wird. Der zentrale Vergleich nutzt das mythologische Bild des Adlers, der jedoch zum Symbol für den alltäglichen Raubzug der Erschöpfung wird: Der Tag lässt sich „wie ein Adler, der seine Beute schlägt“ auf dem Protagonisten nieder.
Diese Metapher verbindet geschickt die mythische Bestrafung – den Adler, der täglich Prometheus‘ Leber frisst – mit der modernen Erfahrung existenzieller Erschöpfung. Die „Tortur“ wird zur unausweichlichen Lebenserfahrung dessen, der anderen geben möchte, ohne selbst Unterstützung zu erhalten.
Die Sprache der Kontraste
Das Gedicht arbeitet durchgehend mit starken Gegensatzpaaren: Wärme und Kälte, Geben und Ernten, Tag und Nacht, Kraftschöpfung und Zermürbung. Diese Polaritäten verstärken das Gefühl einer unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Wollen des Prometheus und der Realität seiner Erfahrung.
Der Schlusssatz „reicht dir niemand die Hand“ bringt die völlige Isolation auf den Punkt und schließt den Kreis zur anfänglichen Kälte. Es ist ein Bild radikaler Einsamkeit, das die prometheus’sche Tragödie in ihrer ganzen Schärfe erfasst.
Die Frage nach dem Sprecher
Wer aber wendet sich hier so direkt an Prometheus? Die intensive Du-Ansprache legt verschiedene Deutungen nahe: Spricht hier ein Beobachter, der die Vergeblichkeit des prometheus’schen Opfers schonungslos benennt? Ist es die Stimme einer harten Erkenntnis, die dem Titanen die Augen öffnen will? Oder hören wir die innere Stimme des Prometheus selbst, der sich seiner eigenen Situation bewusst wird?
Diese Mehrdeutigkeit der Sprechsituation verleiht dem Text seine besondere Intensität und macht ihn zu mehr als nur einer modernen Prometheus-Variation – zu einer direkten Auseinandersetzung mit der Frage, was es bedeutet, in einer kalten Welt Wärme geben zu wollen.
Eine bildliche Entsprechung
Interessant ist – für mich – auch die Frage, ob die Kunst eine visuelle Entsprechung für diesen emotionalen Prometheus kennt. Die klassischen Prometheus-Darstellungen – etwa Rubens‘ „Prometheus Bound“ oder Thomas Coles gleichnamiges Werk – folgen der traditionellen mythologischen Erzählung der körperlichen Bestrafung durch den Adler. Sie zeigen den gefesselten Titanen, aber nicht die subtile psychologische Dimension der unverstandenen Zuneigung.
Die emotionale Landschaft des Gedichts findet sich eher in den Werken der Romantik, besonders bei Caspar David Friedrich. Seine berühmten „Rückenfiguren“ – einsame, kontemplative Gestalten, die der Natur gegenüberstehen – könnten der visuellen Entsprechung dieses gedichteten Prometheus sehr nahekommen. Der „Wanderer über dem Nebelmeer“ etwa zeigt eine einzelne Figur in unwirtlicher Weite, „Der einsame Baum“ (1822) oder „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ erfassen dieselbe existenzielle Melancholie: das Gefühl, allein mit der eigenen Wärme und Sehnsucht der Kälte der Welt gegenüberzustehen.
Diese romantischen Landschaften mit ihren isolierten Figuren treffen genau den Ton des Gedichts – Menschen, die ihre innere Glut in eine indifferente oder feindselige Umgebung tragen, ohne dass „jemand die Hand reicht“. Eine direkte bildliche Umsetzung dieses spezifischen Prometheus-Verständnisses scheint es jedoch nicht zu geben, was den literarischen Text umso eigenständiger macht.
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