Lesen nach Hélène Cixous

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Lesen - Hélène Cixous

Ich greife nach Kafkas Verwandlung,
der Einband, vertraut,
schon wissend: Gregor, Käfer, Entfremdung.

Doch heute steht die erste Zeile
wie ein Fremder an der Tür.

„Als Gregor Samsa eines Morgens …“

Ich stehe am Rand meines Wissens,
warte einen Moment–
überschreite dann über die Linie,
die ersten bekannten Bilder kippen,
der Text arbeitet.

Ich lese mit dem Herzen
eines Menschen,
der noch keinen Käfer gesehen hat,
wie er aus der alten Haut schlüpft,
sich verpuppt, neu entsteht,
und ich werde mit.

Ich streife weitere
alte Bilder ab.

Zwischen den Zeilen
öffnet sich Raum
für Gregors stilles Leiden,
für die Musik seiner Schwester,
die ich neu höre.

Ich lasse mich wieder ein.


Hélène Cixous (geb. 1937) ist eine französische Schriftstellerin, Philosophin und Literaturtheoretikerin. Sie ist bekannt für ihre Texte über Feminismus, Literatur und das Schreiben als Akt des Denkens und Fühlens. Bekannt ist sie zudem für ihr Konzept der „Écriture féminine“ – einer Schreibweise, die Körperlichkeit, Emotion und Kreativität miteinander verbindet.


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