Atmen, Handeln, Lesen: Michael Fehr und das bewegte Lesen

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Der Atem gehört zum Erzählen

«In der Schriftkultur haben wir völlig vergessen, dass der eigentliche Inhalt von Erzählung der Atem ist», sagt der Schweizer Autor Michael Fehr. Das klingt erst mal seltsam. Aber Fehr hat einen Punkt: Geschichten kommen aus dem Körper. Aus Atem, Stimme, Rhythmus.
Wir lesen heute stumm vom Bildschirm oder aus dem Buch. Dabei vergessen wir: Texte entstehen durch Menschen, die atmen. Fehr denkt an Sufis, die ihre Verse rezitieren: «die Atemtechnik, wie sie Luft holen, wie viel Luft sie ausstossen, ist fast präsenter als die eigentliche Artikulation.»

Was der Atem uns erzählt

Fehr geht noch weiter: «Er berichtet von der Existenz, über dein fundamentales Wesen. In dem Moment, in dem du zu atmen aufhörst, gibt es dich nicht mehr.» Das ist keine esoterische Spinnerei. Jeder Autor hat seinen eigenen Atemrhythmus – und der prägt seine Sätze.
Denk an Bernhard: Diese endlosen, atemraubenden Satzschlangen, die sich über Seiten hinziehen. Oder an Hemingway: Kurz, präzise, wie kontrollierte Atemstöße. Bei Proust verlierst du dich in mäandernden Atembögen, die Erinnerung werden.

Vom Hören zum stummen Lesen

Jahrtausende lang wurden Geschichten erzählt, gesungen, rezitiert. Der Rhapsode in der Antike, der Märchenerzähler am Lagerfeuer, der Minnesänger am Hof – sie alle arbeiteten mit ihrem Körper. Ihre Geschichten lebten vom Atem, von Pausen, von Beschleunigung und Verlangsamung.
Das stumme Lesen ist historisch gesehen ein Neuling. Noch Augustinus wunderte sich im 4. Jahrhundert über Ambrosius von Mailand, der Texte las, ohne die Lippen zu bewegen. Heute ist das selbstverständlich – aber haben wir dabei etwas Wichtiges verloren?
Fehr meint: «Alles!» Der Atem verbindet uns mit dem ursprünglichen Kern des Erzählens. Mit der Zeit, in der Geschichten noch Ereignisse waren, nicht nur Information.

Praktische Übung: Der Atem-Text

Probier es aus: Nimm einen Text zur Hand. Lies ihn erst still. Dann laut – und achte dabei auf deinen Atem:

  • Wo musst du Luft holen?
  • Welche Sätze fordern dich heraus, welche fließen leicht?
  • Wie atmet der Autor? Kurze, hektische Sätze oder lange, ruhige Bögen?

Der Text wird körperlich erfahrbar. Kafka atmet anders als Handke. Virginia Woolf anders als Hemingway.

Handlung oder Zustand: Ein Lese-Werkzeug

Fehr sagt klar: «Die Literatur sollte sich darauf beschränken, Handlungen zu beschreiben, statt Zuständen.» Er kritisiert «Befindlichkeitsliteratur» – das mag provokant sein, aber es gibt uns ein nützliches Werkzeug.

Der Handlung-Zustand-Test

Beim nächsten Roman, den du liest, markiere oder notiere:

  • Grün: Passagen, die Veränderung, Bewegung, Handlung beschreiben
  • Rot: Passagen, die in Stimmungen, Befindlichkeiten, statischen Beschreibungen verharren

Du wirst sehen, welche Muster da sind. Manche Autoren arbeiten mit der Spannung zwischen beidem. Andere versacken wirklich in endlosen Zustandsbeschreibungen.

Deinen eigenen Lese-Rhythmus finden

«Jede Person hat ihre Geschwindigkeit», sagt Fehr. Das gilt auch fürs Lesen. Lass dich nicht von fremden Tempo-Vorgaben drängen. Finde heraus, wie du am besten liest:

  • Manche Texte will man schnell verschlingen
  • Andere brauchen Zeit, Pausen, mehrmaliges Lesen
  • Wieder andere entfalten sich nur im langsamen Durchgehen

Versuch mal: Lies dasselbe Gedicht in verschiedenen Geschwindigkeiten. Was passiert mit der Bedeutung? Mit deinem Verstehen? Mit dem Gefühl dabei?

Zusammen lesen macht mehr Sinn

Fehr will eine Kultur des Teilens: «Wenn ich dir mein Talent zur Verfügung stelle und du mir deins, kommen wir gemeinsam weiter.» Das lässt sich direkt aufs Lesen übertragen:

  • Lesekreise, die über oberflächliches Gerede hinausgehen
  • Gemeinsam laut lesen – verschiedene Stimmen hören verschiedene Textebenen
  • Notizen teilen: Deine Fragen, Eindrücke, Zweifel mit anderen Lesenden teilen

Was Texte über uns Menschen erzählen

Fehr redet von «Fundamentalem» – nicht im religiösen Sinn, sondern als Grundlagen menschlicher Erfahrung. Aktives Lesen kann heißen, in jedem Text danach zu suchen:

  • Was sagt dieser Roman über das Menschsein?
  • Welche Ur-Erfahrungen werden hier behandelt?
  • Wie verändert mich diese Lektüre?

Unbekannte Bücher lesen

Am Ende des Interviews sagt Fehr: «ich plädiere dafür, dass mehr Leute in Züge steigen, von denen sie nicht wissen, wo sie ankommen.»
Das können wir aufs Lesen übertragen. Statt immer nur Bewährtes zu lesen, Bestseller zu verfolgen oder Algorithmen zu vertrauen: Nimm unbekannte Bücher zur Hand. Lass dich von Atem, Rhythmus und unerwarteten Geschichten tragen.

Literatur wird dann wieder zu dem, was sie mal war: eine lebendige, körperliche Erfahrung, die dich verändert.


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