26. August 1968 | An diesem Tag unterschreibt Alexander Dubček in Moskau unter massivem Druck das Protokoll, das die Niederschlagung des Prager Frühlings besiegelt. Die Panzer sind bereits fünf Tage zuvor einmarschiert, aber erst jetzt, an diesem Dienstag im August, wird die Kapitulation offiziell. Die Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ ist Geschichte.
An demselben Tag – oder vielleicht kurz danach, rückdatiert auf diesen Moment – schreibt der DDR-Künstler Wolfgang Mattheuer ein Gedicht. Acht Zeilen. Kein Reim, kein Pathos, keine offene Anklage.
Das Gedicht beginnt mit der nüchternen Feststellung: „Seit Tagen wird die Nachricht erwartet.“ Es beschreibt ein Flackern der Erwartung durch die Stunden, wie Kommentare die Zuversicht zerfasern, die keine Nahrung findet. Dann das zentrale Bild: Zuversicht kann verhungern, wie alle Lebewesen. Und am Ende fällt die späte Nachricht auf dürren Boden, auf dem kein Hälmchen Hoffnung mehr ist.
Es ist kein Protestgedicht. Es ist ein Abgesang.
I. Das Warten auf die Nachricht
„Seit Tagen wird die Nachricht erwartet.“ Der erste Satz hat die Nüchternheit einer Chroniknotiz, fast bürokratisch. Aber was für eine Nachricht? Die vom Einmarsch selbst kann es nicht sein – der erfolgte bereits am 21. August. Es muss die Nachricht sein, die danach kommt: Was wird geschehen? Wird Dubček widerstehen? Wird es Konsequenzen geben? Wird der Westen reagieren?
Diese Tage zwischen dem 21. und 26. August 1968 waren Tage der Ungewissheit, nicht nur in Prag, sondern auch in der DDR. Für viele Intellektuelle, Künstler und Reformer war der Prager Frühling mehr als ein tschechoslowakisches Experiment – er war ein Hoffnungszeichen, dass der Sozialismus sich humanisieren, dass er atmen könne. Die Niederschlagung dieses Experiments bedeutete das Ende dieser Hoffnung auch für sie selbst.
Mattheuer schreibt nicht über die Panzer, nicht über Gewalt, nicht über Politik im engeren Sinne. Er schreibt über das Warten. Über die Stunden, die flackern. Über eine Erwartung, die sich verzehrt, noch bevor die Nachricht eintrifft.
Die Erwartung flackert durch die Stunden – das Verb ist perfekt gewählt. Flackern tut eine Kerze, die kurz vor dem Erlöschen ist. Flackern bedeutet: unruhig, unsicher, im Begriff zu verlieren. Die Zeit wird zur Belastung, jede Stunde ein neues Schwanken zwischen Hoffen und Befürchten.
II. Kommentare, die zerfasern
Hier liegt eine der zentralen poetischen und politischen Aussagen des Gedichts. Die „Kommentare“ – das sind die offiziellen Verlautbarungen, die Rechtfertigungen, die Propagandatexte, die in den DDR-Medien erscheinen und den Einmarsch als „brüderliche Hilfe“ darstellen. Es sind aber auch die westlichen Stimmen, die Hoffnung wecken und dann enttäuschen. Es sind die widersprüchlichen Deutungen, die durch die Bevölkerung kursieren, die Gerüchte, die Spekulationen.
Diese Kommentare tun nicht das, was Sprache tun sollte: Sie nähren nicht, sie klären nicht, sie trösten nicht. Stattdessen „zerfasern“ sie die Zuversicht. Das Wort ist brutal in seiner Präzision. Zerfasern bedeutet: in einzelne Fasern auflösen, zerreißen, unkenntlich machen. Die Zuversicht wird nicht einfach zerstört – sie wird systematisch aufgelöst, Faser für Faser, bis nichts mehr zusammenhält.
Was Mattheuer hier beschreibt, ist ein Prozess der sprachlichen Zersetzung. Die offizielle Sprache, die Propaganda, die kontrollierten Medien – sie alle tragen dazu bei, dass echte Hoffnung nicht mehr artikulierbar wird. Es gibt keine Sprache mehr für das, was man fühlt. Die Zuversicht verhungert, weil ihr die Nahrung fehlt: Wahrheit, Klarheit, Solidarität.
III. Das Verhungern der Hoffnung
Der zentrale Satz des Gedichts ist von einer erschütternden Schlichtheit: Zuversicht kann verhungern, wie Katze und Maus und alles. Hoffnung ist hier kein abstraktes Konzept mehr, sondern ein Lebewesen, das Nahrung braucht. Und wie jedes Lebewesen kann sie sterben – nicht durch einen plötzlichen Schlag, sondern durch langsames, zermürbendes Aushungern.
Die Aufzählung „wie Katz und Maus und alles“ ist keine poetische Ornamentik. Sie bringt das Existenzielle, das Alltägliche herein. Nicht nur große Ideale verhungern, auch das Kleine, das Gewöhnliche, das Leben selbst. Die Katze, die Maus – Tiere, die im Alltag leben und sterben, ohne dass die große Geschichte davon Notiz nimmt. „und alles“ – diese Ergänzung weitet den Blick ins Universelle: Alles, was lebt, kann verhungern. Auch die Hoffnung.
Das Bild ist nicht zufällig gewählt. In der DDR jener Jahre war das Verhungern ein Bild mit historischer Resonanz – die Blockade, die Nachkriegszeit, die Hungersnot. Aber hier geht es um einen anderen Hunger: den Hunger nach Freiheit, nach Wahrheit, nach einem Leben, das nicht von Lüge und Zwang bestimmt ist.
Mattheuer diagnostiziert hier etwas Grundlegendes über das Leben in einem repressiven System: Es ist nicht die brutale Gewalt allein, die Menschen zerbricht (obwohl es auch die gibt), sondern das langsame Aushungern aller Hoffnung, aller Zuversicht, aller Möglichkeit zur Veränderung.
IV. Die späte Nachricht
Der Schlusssatz ist eine Katastrophe in Zeitlupe. Die Nachricht kommt – das Moskauer Protokoll ist unterschrieben, die Kapitulation ist offiziell. Aber sie kommt zu spät.
Zu spät wofür? Zu spät, um noch Widerstand zu mobilisieren? Zu spät, um noch Hoffnung zu retten? Nein. Sie kommt zu spät, weil der Boden bereits dürr ist. Die Hoffnung ist bereits verhungert. Es gibt nichts mehr, das diese Nachricht noch erreichen könnte.
Das biblische Bild vom „dürren Boden“ erinnert an das Gleichnis vom Sämann: Der Same fällt auf verschiedene Böden, und nur dort, wo der Boden fruchtbar ist, kann er wachsen. Aber Mattheuers Boden ist nicht nur unfruchtbar – er ist ausgedörrt, tot, ohne jede Möglichkeit zur Regeneration.
„kein Hälmchen Hoffnung“ – das Diminutiv („Hälmchen“) macht das Bild noch schmerzlicher. Es geht nicht einmal um große Hoffnungen, um revolutionäre Aufbrüche. Nicht einmal das kleinste, zarteste Pflänzchen der Hoffnung existiert noch.
V. Die Sprache des Schweigens
Mattheuers Gedicht ist ein Meisterwerk der Verschlüsselung. Nirgendwo erscheinen die Worte „Prag“, „Dubček“, „Einmarsch“, „Sowjetunion“, „Sozialismus“. Das Gedicht könnte theoretisch von jedem enttäuschten Warten handeln. Aber für jeden, der im August 1968 in der DDR lebte, war die Referenz kristallklar.
Diese Verschlüsselung war keine ästhetische Wahl, sondern eine Überlebensstrategie. Offene Kritik am Einmarsch wurde in der DDR strafrechtlich verfolgt. Laut DDR-Generalstaatsanwalt wurden 1.189 Personen belangt, die sich an „Sympathiekundgebungen für die ČSSR“ beteiligt hatten. Künstler und Schriftsteller, die sich zu deutlich äußerten, riskierten Berufsverbot, Haft oder Schlimmeres.
Wolfgang Mattheuer war vor allem als Maler bekannt, als einer der bedeutendsten Vertreter der „Leipziger Schule“. Seine Bilder – wie „Hinter den sieben Bergen“ oder „Der Jahrhundertschritt“ – sind voller Allegorien, Metaphern und verschlüsselter Gesellschaftskritik. Auch dieses Gedicht fügt sich in diese künstlerische Haltung: Es sagt alles, ohne etwas direkt zu benennen.
Das Schweigen ist hier nicht Abwesenheit von Sprache, sondern eine eigene Sprache. Eine Sprache, die zwischen den Zeilen spricht, die andeutet, die verstanden werden will, aber nicht verstanden werden muss. Eine Sprache für die, die lesen können – und die anderen schützt.
VI. Andere Stimmen, andere Schicksale
Mattheuer war nicht allein. Es gab andere Künstler, andere Schriftsteller, die versuchten, auf den August 1968 zu reagieren. Aber ihre Möglichkeiten waren begrenzt, und die Konsequenzen waren real.
Wolf Biermann, der kritische Liedermacher, schrieb das Lied „In Prag ist Pariser Kommune. Sie lebt noch!“ Der Text wurde sofort verboten, die Aufführung unmöglich gemacht. Biermann selbst wurde 1976 ausgebürgert – auch wegen seiner Haltung zum Prager Frühling.
Thomas Brasch, damals 23 Jahre alt und Student an der Filmhochschule Babelsberg, verteilte Flugblätter gegen den Einmarsch. Er wurde verhaftet und zu einer Haftstrafe verurteilt. Das Besonders Tragische: Sein Vater, Horst Brasch, war stellvertretender Kulturminister der DDR – und beteiligte sich an der Verfolgung seines eigenen Sohnes.
Während seiner Haftzeit schrieb Thomas Brasch das Gedicht „Anna“ – das einzige Gedicht, das er in dieser Zeit verfassen konnte. Es wurde später in einem „Poesiealbum“ veröffentlicht, einer der wenigen offiziellen Publikationen seiner Texte in der DDR. 1976, nach Jahren der Schikane, verließ auch Brasch die DDR. Die Erfahrung von 1968 – die Verhaftung, der Verrat des Vaters, die zerbrochenen Hoffnungen – prägte sein gesamtes späteres Werk.
1.189 Menschen wurden strafrechtlich belangt. Wir kennen ihre Namen meist nicht. Wir wissen nicht, was sie geschrieben haben, ob sie geschrieben haben, was sie gedacht haben. Ihre Zeugnisse sind verloren oder versteckt in Archiven, die noch nicht vollständig erschlossen sind.
Und dann gibt es die große Leerstelle: all jene, die nichts schrieben, weil sie wussten, dass es zwecklos war. Die Texte, die nie entstanden, weil die Angst zu groß war. Die Gedichte, die im Kopf blieben. Die Tagebucheinträge, die verbrannt wurden.
VII. Die Frage nach dem Archiv
Ein literarischer Essay über den August 1968 in der DDR muss notwendigerweise unvollständig bleiben. Nicht, weil der Autor nicht genug recherchiert hätte, sondern weil die Quellen selbst unvollständig sind.
Was wurde nach 1989 aus den Archiven geholt? Welche Texte tauchten plötzlich auf, die jahrzehntelang versteckt waren? Thomas Braschs große Werkausgabe „Die nennen das Schrei“ enthält über tausend Seiten – vieles davon unveröffentlicht zu seinen Lebzeiten. Aber wie viele andere Autoren, Dichter, Tagebuchschreiber gab es, deren Nachlässe nicht gesichtet wurden, nicht bewahrt wurden, nicht publiziert werden konnten?
Die Kunstwerke, die in den berühmten „Grafikschränken“ landeten – jenen Archiven für unveröffentlichbare Kunst in der DDR – sind nur zum Teil bekannt. Wie viele Gedichte, wie viele Erzählungen, wie viele kritische Reflexionen liegen noch in privaten Nachlässen, in Kellern, in vergessenen Schubladen?
Und noch grundsätzlicher: Wie viele Menschen haben gar nicht erst versucht zu schreiben, weil sie wussten, dass es niemand lesen würde, dass es gefährlich wäre, dass es sinnlos schien?
Das Schweigen der DDR-Literatur über den Prager Frühling ist nicht nur ein ästhetisches oder politisches Phänomen – es ist eine Archivlücke, eine Leerstelle im kulturellen Gedächtnis, die nie vollständig gefüllt werden kann.
VIII. Offene Fragen
Mattheuers Gedicht vom 26. August 1968 öffnet mehr Fragen, als es beantwortet. Das ist seine Stärke – und seine Herausforderung an uns, die wir heute darüber nachdenken.
Frage 1: Was bedeutet es, wenn ein historisches Ereignis nicht besprochen werden darf?
Der Prager Frühling war in der DDR kein Tabuthema im engeren Sinne – er wurde besprochen, aber nur in der offiziellen Version: als konterrevolutionäre Bedrohung, die durch brüderliche Hilfe abgewendet wurde. Die andere Version – die Trauer, die Enttäuschung, die Solidarität mit den Reformern – konnte nicht öffentlich geäußert werden.
Was macht das mit einer Gesellschaft? Was macht es mit Menschen, wenn sie ihre tiefsten Gefühle und Überzeugungen nicht in Sprache fassen dürfen? Wenn das Trauma eines historischen Moments nicht kollektiv bearbeitet werden kann?
Frage 2: Wie schreibt man über etwas, das offiziell nicht existiert?
Mattheuers Verschlüsselungsstrategie – das Sprechen ohne Namen, das Andeutung ohne offene Referenz – war in der DDR weit verbreitet. Aber wie funktioniert diese Sprache? Wer versteht sie? Und was geht verloren, wenn man nur noch in Andeutungen sprechen kann?
Es gibt eine Gefahr in dieser Form der Kommunikation: Sie schafft eine doppelte Öffentlichkeit. Die, die verstehen, verstehen sofort. Die anderen – oder die nächste Generation – versteht vielleicht gar nichts mehr. Das Gedicht wird unleserlich, sobald der historische Kontext verblasst.
Frage 3: Gibt es eine Literatur des Prager Frühlings in der DDR?
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Wir wissen es nicht genau. Es gibt vereinzelte Texte – Mattheuers Gedicht, Biermanns Lied, Braschs Flugblätter und das Gedicht „Anna“. Aber gibt es mehr? Gibt es Romane, Erzählungen, Theaterstücke, die sich mit diesem Moment auseinandersetzen – vielleicht verschlüsselt, vielleicht zeitlich versetzt?
Die Forschung zu diesem Thema ist erstaunlich dünn. Es gibt historische Studien zum Prager Frühling, es gibt Arbeiten zur DDR-Literatur allgemein. Aber eine systematische Untersuchung der literarischen Reaktionen auf den August 1968 in der DDR fehlt weitgehend.
Frage 4: Was ist mit den 1.189 Bestraften?
Wer waren diese Menschen? Was haben sie gesagt, geschrieben, gedacht? Haben sie später darüber geschrieben? Gibt es Tagebücher, Briefe, Erinnerungen? Oder haben sie geschwiegen – aus Angst, aus Resignation, aus Selbstschutz?
Diese 1.189 sind nicht nur eine statistische Größe. Sie sind 1.189 individuelle Schicksale, 1.189 Geschichten von Mut und Angst, von Hoffnung und Enttäuschung. Die meisten dieser Geschichten kennen wir nicht.
Frage 5: Wie verhält sich Mattheuers Gedicht zu seinem bildkünstlerischen Werk?
Mattheuer war in erster Linie Maler. Seine Bilder aus den späten 1960er und 1970er Jahren sind voller Allegorien, die oft auf gesellschaftliche Widersprüche anspielen. Gibt es Verbindungen zwischen dem Gedicht und seinen Bildern aus dieser Zeit? Lässt sich eine ähnliche Haltung, eine ähnliche Verzweiflung auch in seiner Malerei ablesen?
Frage 6: Was bedeutet „zu spät“?
Die „späte Nachricht“ in Mattheuers Gedicht ist nicht nur zeitlich zu spät – sie ist existenziell zu spät. Sie kommt in einem Moment, in dem sie nichts mehr bewirken kann. Aber wann genau kippt Hoffnung in Hoffnungslosigkeit? Wann wird aus Erwartung Resignation? Und kann man diesen Moment überhaupt literarisch fassen?
Frage 7: Gibt es eine Kontinuität von 1968 zu 1989?
Der Prager Frühling scheiterte. Aber die Hoffnung auf Veränderung verschwand nicht vollständig. 1989, 21 Jahre später, fiel die Mauer. Gibt es eine Verbindung zwischen diesen beiden Momenten? Haben die Menschen, die 1968 enttäuscht wurden, 1989 noch einmal gehofft? Oder war ihre Hoffnung längst verhungert?
Und literarisch: Gibt es Texte, die diese beiden Momente verbinden, die den langen Weg von der Enttäuschung zur Veränderung nachzeichnen?
IX. Schluss: Zeugnis auf dürrem Boden
Wolfgang Mattheuers Gedicht „August 1968″ ist keine große Geste. Es ist kein Aufschrei, keine Anklage, kein Aufruf zum Widerstand. Es ist ein leises, fast verzweifeltes Zeugnis – ein Versuch, festzuhalten, was in jenem Moment verloren ging.
Das Gedicht sagt: Es gab Hoffnung. Es gab Erwartung. Es gab Menschen, die auf Veränderung hofften. Und dann kam die Nachricht – zu spät, auf dürren Boden.
In seiner Schlichtheit ist dieses Gedicht von erschütternder Wahrhaftigkeit. Es verzichtet auf jeden Trost, auf jede Beschönigung. Es sagt: Die Hoffnung ist tot. Der Boden ist dürr. Es wächst nichts mehr.
Und doch: Das Gedicht existiert. Es wurde geschrieben, es wurde aufbewahrt, es wurde überliefert. Es ist selbst ein Hälmchen Hoffnung – nicht die Hoffnung, dass sich etwas ändert, sondern die Hoffnung, dass man bezeugen kann. Dass man sprechen kann, auch wenn niemand zuhört. Dass man schreiben kann, auch wenn niemand liest.
Vielleicht ist das die tiefste Funktion von Literatur in repressiven Zeiten: nicht die Veränderung der Welt, sondern die Bewahrung der Erinnerung. Die Dokumentation dessen, was verloren ging. Das Festhalten eines Moments, in dem Hoffnung verhungerte.
Mattheuers Gedicht ist kein Hoffnungsgedicht. Aber es ist auch kein Gedicht der totalen Verzweiflung. Es ist ein Gedicht der Trauer – und Trauer setzt voraus, dass es etwas gab, das wert war, betrauert zu werden.
Es gab Hoffnung. Sie verhungerte. Aber sie war da.
Das ist es, was das Gedicht bezeugt. Und das ist es, was uns heute – mehr als fünfzig Jahre später – noch immer zu lesen gibt.
Nachwort
Dieser Essay ist notwendigerweise unvollständig. Er wirft mehr Fragen auf, als er beantworten kann. Das liegt nicht an mangelnder Recherche, sondern an der Natur des Themas selbst: Die literarische Reaktion auf den Prager Frühling in der DDR ist eine Geschichte des Schweigens, eine Geschichte der Lücken, eine Geschichte dessen, was nicht gesagt werden durfte.
Die offenen Fragen, die hier gestellt wurden, sind Einladungen zur weiteren Forschung:
- Welche unveröffentlichten Texte gibt es noch in Archiven?
- Wer waren die 1.189 Bestraften, und haben sie geschrieben?
- Wie verhalten sich Mattheuers literarische und bildkünstlerische Arbeiten zueinander?
- Gibt es eine systematische Studie zur DDR-Literatur über 1968?
- Was bedeutet es, literarisch zu schweigen – und gibt es eine Poetik dieses Schweigens?
Mattheuers Gedicht ist ein Anfang. Es öffnet einen Raum, in dem diese Fragen gestellt werden können. Es bezeugt einen Moment, in dem Hoffnung verhungerte. Und es erinnert daran, dass auch das Schweigen eine Form des Sprechens sein kann.
Wolfgang Mattheuer (1927–2004) war einer der bedeutendsten Künstler der DDR, vor allem bekannt für seine allegorischen Gemälde. Sein Gedicht „August 1968″ gehört zu den wenigen direkten literarischen Zeugnissen der DDR-Künstlerschaft über die Niederschlagung des Prager Frühlings; ausgehend von dem, was ich bisher herausfinden konnte.
Datiert: 26. August 1968 – der Tag, an dem das Moskauer Protokoll unterzeichnet wurde und die Hoffnung auf Reform im Ostblock endgültig begraben wurde.


Schreibe einen Kommentar