Eine Annäherung | Dieses Gedicht erzählt eine Geschichte, die von einem rätselhaften Bild lebt: dem kaputten Salzfass. Es ist zerbrochen, hält nichts mehr, und doch wird es immer wieder gefüllt. Salz selbst ist ja seit jeher ein Symbol für das Lebensnotwendige – es würzt unser Essen, konserviert, und die Redewendung vom „Salz der Erde“ spricht für sich. Aber dieses Fass ist nutzlos, und das beharrliche Füllen wirkt fast schon sinnlos, vielleicht sogar wie ein Zwang.
Diese eigentümliche Handlung steht in einem starken Kontrast zu drei düsteren Szenarien, die sich im Gedicht entfalten – allesamt Geschichten von vorauseilender Zerstörung:
Da ist zum einen das Haus: Noch bevor jemand darin wohnen kann, wird schon Dynamit gekauft. Eine seltsame Wut auf das Leben, die sogar dessen Anfang vorwegnimmt. Dann kommt die Nacht: Sie hat ihre Dunkelheit noch nicht ganz entfaltet, da wird schon nach dem Tag geschrien. Eine Ablehnung der Ruhe, der Dunkelheit, des ganz natürlichen Rhythmus. Und schließlich die Kinder: Bevor sie überhaupt die Chance haben, erwachsen zu werden, werden sie schon ausgesetzt. Ein brutaler Verrat an dem, was Schutz braucht und die Zukunft darstellt.
Diese drei Bilder – immer nach dem Muster „wenn … noch nicht … schon“ – zeigen ein erschreckendes Muster menschlicher Selbstsabotage: Zerstörung, die einsetzt, noch bevor überhaupt etwas entstehen oder reifen kann. Das kaputte Salzfass, das sowohl am Anfang als auch am Ende des Gedichts auftaucht, umrahmt diese Verlusterfahrungen. Es ist wie ein hartnäckiger Gegenpol zu all dem. Man fragt sich unwillkürlich: Warum füllt jemand etwas, das nichts mehr halten kann?
Dieses Gedicht verstehe ich auf verschiedenen Ebenen:
Es ist eine Kritik an unserer Zivilisation: Es zeigt, wie wir dazu neigen, das Zerbrechliche – seien es Beziehungen, die Natur oder unsere Kultur – zu zerstören, noch bevor es sich voll entfalten kann. Gleichzeitig halten wir künstlich Strukturen am Leben, die längst brüchig sind, genau wie das Salzfass.
Es berührt existentielle Fragen: Es führt uns die Absurdität menschlichen Handelns vor Augen: sinnlose Gewalt neben dem fast schon sturen Versuch, das Unheilbare zu pflegen.
Es spricht von Trauma und Wiederholung: Das „immer wieder“ könnte auf eine zwanghafte Wiederholung hindeuten – als Versuch, eine Leere zu füllen, die nicht mehr zu reparieren ist, das zerbrochene Gefäß eben.
Die Sprache des Gedichts ist karg und präzise. Kurze Zeilen, scharfe Brüche wie das „schon“, und ein Verzicht auf jede Romantisierung verstärken die Wucht der Bilder – man denke nur an das Dynamit oder die ausgesetzten Kinder.
Salz selbst ist ein uraltes Symbol, voller Widersprüche: Es steht für Tränen, Reinigung, aber auch für Bündnisse und das Wesentliche. Vielleicht ist das kaputte Salzfass gerade deshalb so bedeutungsvoll, weil es die Unmöglichkeit darstellt, das Wichtigste zu bewahren. Und doch bleibt der menschliche Drang, es immer wieder zu versuchen, unauslöschlich. So wird das Gedicht zu einer düsteren, poetischen Parabel über Zerstörung und den zerbrechlichen Willen zum Überleben in einer Welt, die selbst zerbrochen scheint.
Quelle des Gedichtes: Ille Chamier – Tagtexte
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aber das kaputte Salzfaß
Eine Annäherung | Dieses Gedicht erzählt eine Geschichte, die von einem rätselhaften Bild lebt: dem kaputten Salzfass. Es ist zerbrochen, hält nichts mehr, und doch wird es immer wieder gefüllt. Salz selbst ist ja seit jeher ein Symbol für das Lebensnotwendige – es würzt unser Essen, konserviert, und die Redewendung vom „Salz der Erde“ spricht…
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Annäherung an Ille Chamiers „das kaputte Salzfaß wird behandelt wie ein heiliger Topf“ Manchmal ist es ein einziger Satz, der innehalten lässt, irritiert und zum Nachfassen einlädt. Ille Chamiers Zeile „das kaputte Salzfaß wird behandelt wie ein heiliger Topf“ aus ihrem 1980 erschienenen Lyrikband Tagtexte ist so ein Fall. Beim ersten Lesen habe ich mich…
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