Arien - Pina Bausch - Ille Chamier

Arien

Eine Annäherung basierend auf Ille Chamiers Text zum Stück. (s.u.) „Arien“ ist ein abendfüllendes Tanztheaterwerk von Pina Bausch, das 1979 uraufgeführt wurde. Grundlage war eine intensive Probenphase, in der das Ensemble über Improvisationen, spontane Szenenentwicklungen und das Kombinieren scheinbar unverbundener Elemente arbeitete.
Ille Chamier, Autorin auch des Programmhefttextes, dokumentierte nicht nur die Fakten zur Produktion, sondern auch atmosphärische Beschreibungen, Assoziationen und Beobachtungen aus dem Probenprozess. – Auf mich wirkt dies wie ein Auszug aus einem Kollektaneebuch.

Titel: „Arien“ – Uraufführung am Wuppertaler Tanztheater, 1979
Konzept, Inszenierung, Choreographie: Pina Bausch
Mitarbeit: Marion Cito, Hans Pop
Bühne & Kostüme: Ralf Borzik
Premiere: 12. Mai 1979, Wuppertaler Bühnen
Spieldauer: ca. 2 ¾ Stunden, eine Pause

Die Arbeit folgte Bauschs charakteristischem Verfahren: Fragen, Improvisationen und Erinnerungen der Tänzerinnen und Tänzer führten zu einer Sammlung von Szenen, die miteinander verwoben wurden. Dabei entstanden wiederkehrende Themen: Nähe und Distanz zwischen Menschen, kindliche Spiele, Rollentausch, gesellschaftliche Rituale, absurde und poetische Alltagsmomente.

Szenische Motive:

Wasser als zentrales Bühnenelement: Die Bühne ist teilweise geflutet; Figuren bewegen sich darin, sitzen oder liegen im Wasser. Es steht für Erinnerung, Zeitfluss und emotionale Räume.
Tierassoziationen: Bilder von toten oder imaginären Tieren (Frosch, Rochen, Krebsscheren) tauchen in kindlich inszenierten „Fundstück“-Szenen auf.
Nähe und Distanz: Umarmungen, getragen werden, Hilflosigkeit, Weggehen; Rollenwechsel zwischen Männern und Frauen.
Rituale und Spiele: Hochzeits- und Balzrituale, Wettläufe, Gesellschaftstänze, Spiele mit festen Regeln; Lachen als Abwehr oder Machtdemonstration.
Verkleidungen: Absurd arrangierte Kostüme aus Alltagsgegenständen, groteske und poetische Verwandlungen.
Arien als dramaturgische Inseln: Klassische Opernfragmente unterbrechen oder begleiten Szenen und stehen im Kontrast zu stillen, physischen Handlungen.

Eingebettetes Gedicht im Programmheft:
Mitten zwischen Probenbeobachtungen und Szenenbeschreibungen erscheint im Programmheft ein kurzes Gedicht:

und da, wo du liegst
stieg aus der Erde
das Wasser, es weinte
das Land, ein Tier
trieb vorüber, im Nachtrauch
schwärmen die Fliegen
wo fließt dein Haar
deinen Bauch
trat ich mit Füßen
ach und dein Herz
trinkt niemand mehr aus

Ille Chamier

Dieses Gedicht greift zentrale Motive der Inszenierung auf – Wasser, Körper, Natur, Tier, Verfall – und verdichtet sie zu einer lyrischen Szene. Es steht nicht abseits, sondern ist Teil derselben Bild- und Themenwelt wie das Bühnengeschehen.
Einige Besonderheiten:
Keine lineare Handlung; Szenenfolge basiert auf assoziativer Montage.
Verbindung von Tanz, Schauspiel, Musik, Alltagsbewegungen und Sprachfragmenten.
Wechsel zwischen poetischen, humorvollen und melancholischen Momenten.
Programmheft von Ille Chamier dokumentiert den Entstehungsprozess, listet thematische und szenische Elemente und enthält Texte, die sowohl beschreibend als auch eigenständig künstlerisch gestaltet sind.

Szenische und thematische Elemente
Bewegungsmaterial und Bilder: Umarmungen, Wettläufe, Stillstehen, gemeinsames und einsames Sitzen, Stürze, kleine Gesten, Wasser auf der Bühne, Verkleidungen, Gesellschaftstänze, Balzrituale, spielerische Handlungen und wiederkehrende Motive wie „erstarrte Paare“.
Bühnenbild: Die Bühne war teils mit Wasser gefüllt, was Bewegungen verlangsamte und symbolisch für Erinnerung, Zeitfluss und emotionale Tiefe stand.
Musik: Mischung aus klassischer und populärer Musik, u.a. Beethoven (Mondscheinsonate), Mozart (Eine kleine Nachtmusik), Rachmaninow (Préludes), Schumann (Kinderszenen), Opernarien von Beniamino Gigli, sowie Musik der Comedian Harmonists.

Textpassagen und Beobachtungen | Chamiers Text im Programmheft verbindet Beschreibungen der szenischen Eindrücke mit fragmentarischen Gedanken, Dialogfetzen und improvisierten Erzählungen aus der Probenzeit.
Figuren wirken oft wie zwischen Kindheit und Erwachsenenalter gefangen.
Wiederkehrendes Motiv: Menschen in ritualisierten Handlungen, zwischen Heiterkeit und Melancholie.
Spiele als Metapher für Zeitvertreib, soziale Regeln und Machtverhältnisse.
Wasser als Bühnen- und Erinnerungselement: es wird nicht nur visuell, sondern auch klanglich und symbolisch genutzt.
Arien als Ausdruck von Trauer, Sehnsucht oder Übersteigerung von Gefühlen; eine Umfrage unter Mitwirkenden zeigt unterschiedliche persönliche Assoziationen dazu.

Künstlerische Handschrift | Das Werk steht exemplarisch für Pina Bauschs Arbeitsweise:
Szenen entstehen aus biografischen und imaginären Antworten der Mitwirkenden.
Alltagshandlungen, Tanz, Theater und Musik werden verflochten.
Humor und Absurdität existieren neben existenziellen Themen wie Liebe, Vergänglichkeit, Angst oder Erinnerung.

Ille Chamier gelingt es in ihrem Text, den Entstehungsprozess, die Atmosphäre der Proben und die ästhetische Wirkung der Aufführung nicht nur zu dokumentieren, sondern auch literarisch zu spiegeln. Ihr Programmheftbeitrag ist sowohl Werkbeschreibung als auch eigenständiges künstlerisches Stück Prosa.

Titelbild:  Yassine Ait Tahit


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