Weitergedacht | Himbeeren von Valerie Zichy
Die Idee: Jeder Satz aus „Himbeeren“ wird zum Ausgangspunkt eines eigenen, kurzen Textes – veröffentlicht über mehrere Wochen verteilt. Dadurch entsteht eine serielle Auseinandersetzung, die die Fragmentierung des Ichs temporal nachvollzieht. Die Texte können dabei unterschiedliche Formen annehmen: assoziative Miniaturen, eigene Erinnerungen, theoretische Überlegungen, lyrische Reaktionen.
#1 das hier ist autofiktion. das ich hier ist autofiktion.
Zweimal derselbe Satz, fast. Einmal zeigt „hier“ auf den Text, einmal auf das Ich. Als würde sich die Fiktionalität von außen nach innen bewegen, oder von innen nach außen – je nachdem, von wo aus man schaut. Autofiktion als Doppelbelichtung: Das reale Leben und das geschriebene Leben überlagern sich, werden unscharf an den Rändern. Man kann nicht mehr sagen, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Vielleicht ist das die Pointe: Es gibt keine Grenze. Es gibt nur verschiedene Grade der Durchlässigkeit. Und das „hier“ ist ohnehin eine Illusion – sobald ich es ausspreche, bin ich schon woanders. Das Hier des Schreibens ist immer schon ein Damals, wenn es gelesen wird. Das Ich des Schreibens ist immer schon ein Anderes, wenn es sich selbst liest.
#2 das ich hinter diesem text isst gerne himbeeren.
Isst, nicht aß. Präsens. Als ob es gerade jetzt geschieht, während ich lese, während du schreibst, während das Ich hinter dem Text existiert – wo auch immer das ist. Himbeeren sind empfindlich, zerdrücken leicht, hinterlassen Spuren. Man kann sie nicht essen, ohne dass sie sich verwandeln, auflösen. Vielleicht ist das die Pointe der Himbeere als Motiv: Sie ist da und sofort wieder weg, ein Moment auf der Zunge, dann nur noch Erinnerung. Wie das Ich hinter dem Text. Wie jedes Ich vielleicht. Wir essen gerne etwas – aber wer ist dieses „wir“, das da isst? Der Körper? Das Bewusstsein? Die Erinnerung an frühere Himbeeren? All das gleichzeitig, vermutlich. Und trotzdem bleibt die Himbeere seltsam konkret, unangreifbar in ihrer Süße und Säure.
#3 das ich hat oft ein schlechtes gewissen. und regelschmerzen.
Beides sind Rhythmen. Das schlechte Gewissen kommt und geht, in Wellen, manchmal ohne erkennbaren Grund. Die Regelschmerzen auch – zyklisch, vorhersehbar und doch jedes Mal überraschend in ihrer Intensität. Beides sind Erinnerungen daran, dass man einen Körper hat, dass man in Zeit existiert. Das schlechte Gewissen ist das Gefühl, nicht genug zu sein, zu viel zu sein, falsch zu sein. Die Regelschmerzen sind einfach da, ohne moralische Komponente, aber mit derselben Insistenz. „Und“ – keine Hierarchie zwischen beiden. Sie gehören zum selben Inventar dessen, was es bedeutet, dieses Ich zu sein. Vielleicht ist das radikal: Beides gleichwertig zu nennen, das Psychische und das Körperliche, ohne das eine dem anderen überzuordnen.
#4 das ich trinkt heiße schokolade.
#5 das ich ist fiktiv.
#6 das ich ist babysitterin.
#7 das ich ist ich und das ich ist nicht ich.
…folgen am 19.10.
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Valerie Zichy
3–4 minutesValerie Zichy wurde 2002 geboren und ist eine österreichische Autorin, die an der Universität für angewandte Kunst in Wien Sprachkunst und Philosophie studiert hat. Sie gehört zu einer neuen Generation literarischer Stimmen, die sich in den letzten Jahren in der Wiener Literaturszene etabliert haben. Literarisches Schaffen Zichy schreibt eine Mischung aus Prosa und Lyrik, die…
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Die zeitversetzte Korrespondenz
2–3 minutesWeitergedacht | Himbeeren von Valerie Zichy Die Idee: Jeder Satz aus „Himbeeren“ wird zum Ausgangspunkt eines eigenen, kurzen Textes – veröffentlicht über mehrere Wochen verteilt. Dadurch entsteht eine serielle Auseinandersetzung, die die Fragmentierung des Ichs temporal nachvollzieht. Die Texte können dabei unterschiedliche Formen annehmen: assoziative Miniaturen, eigene Erinnerungen, theoretische Überlegungen, lyrische Reaktionen. #1 das hier…
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Himbeeren – Valerie Zichy
4–6 minutesHIMBEEREN das hier ist autofiktion. das ich hier ist autofiktion. das ich hinter diesem text isst gerne himbeeren. das ich hat oft ein schlechtes gewissen. und regelschmerzen. das ich trinkt heiße schokolade. das ich ist fiktiv. das ich ist ich und das ich ist nicht ich. das ich ist babysitterin. das ich zieht über-all die…

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