Ille Chamier - Das Wasser biegen - Lyrik

Diese Bildsprache flutet mich

Annähernd gelesen 1 | Diese Gedicht ohne Titel – „Ich habe das Wasser gebogen“  – beschreibt in meiner Wahrnehmung einen Machtkampf bzw. eine wechselhafte Beziehung zwischen dem lyrischen Ich und dem Element Wasser. Wobei ich denke, dass das Wasser Platzhalter ist. 

Eine Annäherung an die einzelnen Bilder:

„Ich habe das Wasser gebogen / da schlüpfte es fort / wie ein Schwarm kleiner Fische“

  • Das Wasser scheint zunächst etwas Formbares, fast Beherrschbares („gebogen“), doch es entzieht sich leicht und spielerisch („schlüpfte fort“).
  • Der Vergleich mit einem „Schwarm kleiner Fische“ unterstreicht die Flüchtigkeit und Lebendigkeit des Wassers – es lässt sich nicht wirklich fassen.

„Ich habe das Wasser geschlagen / da fraß es mir den Stock aus der Hand / und lächelte sich einen runden Rücken“

  • Gewalt („geschlagen“) führt zu einer Gegenreaktion: Das Wasser wird aggressiv („fraß den Stock“) oder verschlingt das Werkzeug des Angriffs.
  • Das „Lächeln“ und der „runde Rücken“ könnten Wellen darstellen – das Wasser zeigt sich selbstbewusst, fast spöttisch, und formt sich neu.

„Ich habe das Wasser gekocht / da röchelte es in meinen Töpfen / und zischte mir aus dem steilen Fenster / stürzte platzend aus allen Wolken / und hagelte auf mich ein“

  • Der Versuch, das Wasser zu beherrschen (durch Kochen), führt zu einer explosiven Reaktion: Es entweicht als Dampf, wird zu Regen, Hagel – eine Naturgewalt, die zurückschlägt.
  • Die Bilder erinnern an eine Art Strafe oder Vernichtung: Das Wasser wird unkontrollierbar und überwältigend.

„da wurd ich ein Haufen mehliger Staub / wie alle zermahlenen Zeiten / und dachte nicht mal dass ich Körper sei / und mein Kinn je ruhte in deiner Hand“

  • Das lyrische Ich wird zu Staub – ein Symbol für Vergänglichkeit und Ohnmacht.
  • Der Vergleich mit „zermahlenen Zeiten“ deutet auf eine allgemeine menschliche Erfahrung hin: Der Kampf gegen Naturgewalten (oder vielleicht auch gegen Emotionen?) ist sinnlos.
  • Die letzten beiden Zeilen wirken melancholisch: Selbst die Erinnerung an Zärtlichkeit („Kinn in deiner Hand“) scheint in der Vernichtung verloren.

Mögliche Interpretationen:

  1. Natur vs. Mensch: Ein Kampf gegen die Natur (Wasser als lebendiges, unbezwingbares Element), der scheitert.
  2. Emotionen: Wasser könnte für Gefühle stehen – man versucht, sie zu kontrollieren, doch sie brechen sich gewaltsam Bahn.
  3. Existenzielle Erfahrung: Das Gedicht könnte von menschlicher Hybris handeln und davon, wie die Natur den Menschen demütigt.

Was bedeutetdas Wasser biegen„?

Die Redewendung „das Wasser biegen“ wirkt auf den ersten Blick absurd, denn Wasser ist von Natur aus fließend und ungreifbar. Das Verb „biegen“ suggeriert eine gewaltsame, aktive Geste – man verformt etwas, übt Kontrolle aus. Doch wie lässt sich etwas Biegen, das sich jedem Zugriff entzieht? Schon hier offenbart sich ein fast magischer Widerspruch: Der Versuch, das Unkontrollierbare zu bezwingen.

Doch dieser anfängliche „Erfolg“ ist trügerisch. Das Wasser „schlüpft fort“, als wäre es ein lebendiges Wesen – es entzieht sich mit spielerischer Leichtigkeit. Der Vergleich mit einem „Schwarm kleiner Fische“ unterstreicht diese Unfassbarkeit: Fische sind schnell, bewegen sich im Kollektiv und entgleiten den Händen. Genauso wenig wie man Wasser dauerhaft halten kann, lässt sich die Natur – oder vielleicht auch das Emotionale, das das Wasser symbolisiert – wirklich bändigen.

Das lyrische Ich glaubt zunächst an seine Macht („ich habe…“), doch schnell wird klar, dass es sich einer Illusion hingibt. Die vermeintliche Kontrolle ist nur vorübergehend, und das vermeintlich Gebändigte reagiert mit List. Interessant ist, wie sich die Gewalt steigert: Zunächst wird das Wasser gebogen, doch es entweicht harmlos. Beim Schlagen beißt es zurück, und im Kochen wird es sogar zur tödlichen Bedrohung. Der anfängliche Triumph erweist sich als Fallstrick – er nährt die trügerische Hoffnung, Herr der Lage zu sein, bevor alles eskaliert.

Am Ende bleibt die Erkenntnis: Der Mensch mag glauben, er könne die Natur oder seine eigenen Gefühle beherrschen, doch beides entzieht sich ihm – mal sanft, mal mit unerbittlicher Konsequenz.


Die starken, fast mythologischen Bilder erinnern an alte Sagen (etwa den Kampf gegen Flut oder Sturm). Gleichzeitig könnte es auch eine Metapher für eine gescheiterte Liebe oder eine übermächtige emotionale Erfahrung sein. – Ich werde dieses Gedicht noch öfter lesen müssen.

Erstveröffentlichung in „Gezinktes Licht“ – Handedition Textille, 2003 (Fehlt noch in meinem Bestand.). Entnommen aus: Bekannt trifft Unbekannt | Eine Lyrikreihe mit Gesprächen im onomato. Herausgegeben und kuratiert von Frauke Tomczak.


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