Jürgen Völkert-Marten konstruiert in diesem Gedicht einen Zirkel aus Flucht und Rückkehr. Das lyrische Ich denkt an seine „Ingo-Zahl“ – einen Begriff, der rätselhaft bleibt, aber offenbar eine Art Bewertung oder Messung seiner selbst darstellt. Diese Beschäftigung mit der eigenen Vermessung führt ihn zu einer Erkenntnis: Wichtigeres existiert, doch dieses Wichtigere entzieht sich seinem Zugriff.
Die räumlichen Metaphern verstärken das Gefühl der Distanz. Das Wichtige liegt „weit weg“, erscheint „unerreichbar“. Der Sprecher erlebt sich als handlungsunfähig – er kann das Wichtige „wenig beeinflussen“. Diese Erfahrung der Machtlosigkeit wandelt sich in seinem Bewusstsein zur Schwäche um.
Schach betritt das Gedicht als Fluchtmittel. Der Sprecher wendet sich dem Spiel zu, um seine empfundene Schwäche zu vergessen. Doch das Gedicht vollzieht eine perfekte Kreisbewegung: Die letzten Zeilen wiederholen fast wörtlich den Beginn. Der Zirkel schließt sich. Die Flucht ins Schachspiel führt zurück zum Ausgangspunkt – zur Beschäftigung mit der eigenen Ingo-Zahl.
Das Wort „zeitweise“ erscheint dreimal und rhythmisiert den Text. Es markiert die Temporalität der Flucht: Der Sprecher spielt Schach für begrenzte Zeit, vergisst seine Schwäche nur vorübergehend, kehrt dann zum kreisenden Denken zurück. Die Wiederholung erzeugt eine obsessive Qualität.
Die Syntax verstärkt den Eindruck des Gefangenseins. Lange, verschachtelte Sätze winden sich durch das Gedicht wie Gedankenspiralen. Kommas verzögern den Lesefluss und imitieren das zögerliche, kreisende Denken des Sprechers.
Schach funktioniert hier nicht als Lösung, sondern als temporäre Betäubung. Das Spiel unterbricht den Gedankenzirkel, ohne ihn aufzulösen. Der Erzähler kehrt immer wieder zum selben mentalen Ort zurück – eine endlose Schleife aus Selbstbewertung, Ohnmacht und kurzfristiger Ablenkung.
Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn dieses Gefühl der Ohnmacht und der Schwäche, dieser Impuls sich vergleichen zu wollen, zu müssen auf das Schachspiel überträgt. Drei Entwürfe, Spielereien sind dabei herumgekommen:
Ich denke an den nächsten Zug,
obwohl es wichtiger wäre,
die Figuren nicht nur zu stellen,
sondern sie zu bewegen,
doch der Blick bleibt hängen
an der Zahl,
an der Bewertung,
und ich ziehe den Springer
nur um den Kreis zu vollenden,
um das Gefühl der Ohnmacht
für ein paar Atemzüge
zu überspielen.
Der Turm rückt vor,
die Dame hält den Atem an,
der König wartet,
ich wiederhole die Züge,
als könnte sich etwas ändern
durch die Wiederholung,
aber es ändert sich nicht,
es bleibt nur der Kreis,
das immer gleiche Denken,
und das Schachbrett hält mich,
zeitweise,
bevor es mich zurücksetzt
an den Anfang.
Bauer nach e4,
ein Schritt nach vorn,
als wollte ich das Ferne erreichen,
aber der Weg bleibt blockiert.
Springer nach f3,
ein Bogen,
kein Geradeaus,
ich umkreise,
ich taste seitlich nach Halt.
Läufer nach c4,
schräg ins Offene,
doch das Offene bleibt Spiegel,
die Diagonale nur eine Wiederholung
meiner Gedanken.
Der Gegner antwortet,
ich antworte zurück,
Turm hebt sich noch nicht,
Dame schweigt,
König rührt sich kaum,
und doch wandert mein Blick
immer wieder zur Zahl,
zur Vermessung,
die wie eine Figur neben dem Brett
unsichtbar mitschiebt.
Rochade.
Ein Rückzug,
ein Schutz,
ein Kreisen um den eigenen Platz.
Ich spiele, um zu vergessen,
doch jeder Zug erinnert.
Partie noch offen,
Kreis noch geschlossen.
1. e4 – ein Schritt nach vorn, als wollte ich beginnen, Kontrolle zu gewinnen.
… e5 – sofort der Widerstand, der Spiegelzug, nichts rückt wirklich näher.
2. Nf3 – ich greife nach dem Zentrum, seitlich, krumm, nicht gerade.
… Nc6 – er antwortet symmetrisch, als würde er mir mein eigenes Denken zurückwerfen.
3. Bc4 – der Läufer tastet die Diagonale ab, schräg, vorsichtig ins Offene.
… Bc5 – das Offene schließt sich, ich sehe mich selbst im Gegenüber.
4. O-O – Rochade, ich verschiebe mich, sichere mich, als könnte Sicherheit Stärke sein.
… Nf6 – ein Angriff, doch er bleibt gebremst, wie ein Gedanke, der nicht ausbricht.
5. d3 – ein kleiner Zug, kein Befreiungsschlag, nur Stützen, nur Halten.
… d6 – er hält ebenso, als wäre auch er ohnmächtig.
6. c3 – Vorbereitung, ein Aufschub, ein Kreis, kein Durchbruch.
… a6 – er wartet, er stellt sich, er wiederholt mein Warten.
Und so wächst die Stellung, Zug um Zug, Spiegel um Spiegel,
bis das Brett aussieht wie mein Kopf: Figuren blockieren sich,
Möglichkeiten verschieben sich,
doch kein Ausweg entsteht.
Die Ingo-Zahl bleibt am Rand, unsichtbar wie eine Uhr,
tickt leise,
misst,
wertet,
während die Partie weiterkreist,
zeitweise,
immer zeitweise.
Ein weiterer Gedanke
Im Mittelalter oder in Allegorien wurden Schachfiguren oft mit menschlichen Eigenschaften, Rollen oder Tugenden verbunden. Wenn man das ins Gedicht überführt, dann entsteht nicht mehr nur ein „Spiel der Züge“, sondern ein Spiel der Kräfte im Inneren. Jede Figur wird zu einem Teil der Psyche oder des Denkens, das in Bewegung gerät. Beispielhafte Entfaltung:
- Der Bauer: das stetige Grübeln. Immer nur ein Schritt, klein, langsam, kaum vorankommend, aber zahlreich, überall. Er füllt das Feld, blockiert, bedrängt, aber ohne Schlagkraft.
- Der Springer: das Zirkeln, die Umwege, das Quer-Denken. Er überspringt Hindernisse, bewegt sich nicht geradeaus. Er könnte das „Ausweichen“ oder die gedanklichen Schleifen verkörpern.
- Der Läufer: der, der versucht, diagonal „durchzuschneiden“. Er sucht Linien, will Klarheit schaffen, aber bleibt auf seiner schrägen Bahn gefangen.
- Der Turm: die Blockade, die Starre. Er steht gerade, massiv, verschiebt sich kaum. Vielleicht die „Festung“ gegen die Ohnmacht – oder das Hindernis, das den Fluss aufhält.
- Die Dame: die Kraft, die alles könnte, aber oft abwartet. Sie wäre die Möglichkeit zur Lösung, ein Sprung aus dem Zirkel – wenn man sie einsetzen würde.
- Der König: das Selbst, verletzlich und doch Zentrum. Alles dreht sich um ihn, obwohl er sich am wenigsten bewegen kann.
So wird das Schachbrett ein Bild der inneren Topografie: Grübeln (Bauern) blockiert, Schleifen (Springer) drehen, die Möglichkeit zur Befreiung (Dame) bleibt ungenutzt, während die innere Ohnmacht (König) geschützt und zugleich gefangen bleibt.
Man könnte daraus dann eine Lösungsdynamik entwickeln:
Anfang: Bauern (Grübeln) bestimmen das Feld.
Mittelspiel: Springer (Schleifen) und Läufer (schräges Denken) bewegen sich, suchen Auswege.
Entscheidung: Die Dame tritt ins Spiel, sie bricht den Kreis auf, bringt Dynamik hinein.
Ende: Der König erreicht zwar kein „Matt“, aber vielleicht eine Art „Atmung“ – kein Sieg, sondern ein temporäres Gleichgewicht.
Historischer Hintergrund
1. Jacobus de Cessolis – Liber de moribus hominum… super ludi scachorum
Der dominikanische Mönch Jacobus de Cessolis (13. Jh.) schrieb eine der einflussreichsten moralischen Allegorien über Schach, in der er jede Figur mit gesellschaftlicher und moralischer Funktion belegte. So stehen:
- Bauern für verschiedene Berufe und soziale Rollen, etwa der Bauer, der die Burg ernährt, oder der Schmied, der dem Ritter Rüstung liefert.
- Die Allegorie ordnet die Figuren nach ihrer Rolle in einer harmonischen Gesellschaft. Das Werk wurde ähnlich weit verbreitet wie die Bibel.
- Cessolis verknüpft die Spielfiguren (z. B. Bauern, Türme, Ritter) mit Tugenden und ihrer Aufgabe im gesellschaftlichen Bild .
2. Moralisierende Schachpoeme
Ein Beispiel ist das Echecs amoureux (versifizierte Form), das Beziehungen durch Schach allegorisiert:
- Hier steht Schwarz (z. B. Stolz, Lüge, Sinneslust) im Spiel gegen Weiß (z. B. Demut, Wahrheit, Freundschaft).
- Jede Figur repräsentiert eine Tugend oder Sünde; der Zug wird im Kontext moralischer Auseinandersetzungen interpretiert.
3. Scachs d’amor (Katalanisches Liebesgedicht im Schachformat, ca. 1475)
Ein mittelalterliches Gedicht, das die Partie als Dialog zwischen Liebe und Ruhm (Mars vs. Venus) nutzt:
- Jeder Zug wird in drei Strophen dargestellt – Zug Weiß, Zug Schwarz, Kommentar des Schiedsrichters.
- 64 Strophen entsprechen den 64 Schachfeldern – das Spiel als Symbol für Liebe und ihre Kämpfe.
4. Libro de los Juegos (Alfonso X. von Kastilien, 13. Jh.)
Ein reich illustriertes Kompendium über verschiedene Spiele – insbesondere Schach – in denen:
- Schach als Spiegel des Kosmos und der menschlichen Ordnung fungiert.
- Das Spiel symbolisiert königliche Tugenden wie Klugheit, Vorsicht und Fähigkeit zur Herrschaft.
Mehrschichtiges Bedeutungsnetz
- Gesellschaftsmodell: Schach bildet mittelalterliche Gesellschaften als geordnetes System ab – jede Figur hat ihren Platz und ihre Aufgabe im gesellschaftlichen Gefüge.
- Religio-moralische Lehre: Moralitätsspiele mit allegorischen Figuren gaben Schach eine bewusste ethische Dimension – Tugenden gegen Laster.
- Symbol der Liebe: Schach wird nicht nur als moralisches oder soziales Modell genutzt, sondern auch als Spiel der Emotionen – insbesondere Liebe und Verführung.
Quellen:
Scribd | Wikipedia | Wikipedia | toutfait.com | femailfromabroad | toutfait.com | Scroll.in | questionjournal | JSTOR Muse | Scribd | Wikipedia | Ebin | Wikipedia
GRÜNDE veröffentlicht in:
Jürgen Völkert-Marten – UNSER FORTGESETZTER WUNSCH NACH OPTIMUSMUS
Tentamen-Drucke Bad Cannstatt – Kleine Handbibliothek – Heft 3
ISBN 3-921625-09-2
1977
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