Lithopoesie - ersatzgestalt - oliver simon

Lithopoesie – Steine Geschichten erzählen lassen

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Steine zu sammeln ist fast alltäglich für mich. Meistens sind diese Fundstücke mehr als Dekorationsobjekte. Irgendwann bin ich auf die Lithopoesie – zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern lithos (Stein) und poiesis (Dichtung) – gestoßen. Sie macht Steine zu literarischen Partnern: Geologie und Imagination, Fundort und Fiktion verbinden sich dabei.
Die Idee ist einfach: Jeder gefundene Stein wird zum Ausgangspunkt für Texte, Assoziationen oder literarische Verknüpfungen. Ein rauer Granit vom Ostseestrand kann plötzlich mit Theodor Storms Gedicht „Meeresstrand“ korrespondieren, ein glatter Kiesel mit dem berühmten Steinwurf in Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“.

Auf meinen Spaziergängen zu Hünengräbern sammle ich nicht nur Steine, sondern auch Geschichten. Diese uralten Megalithen erinnern an literarische Monumente – von den rätselhaften Steinkreisen in Thomas Hardys „Tess of the d’Urbervilles“ bis zu den mystischen Menhiren in Walter Scotts Romanen.

Praktische Schritte zur Lithopoesie

1. Dokumentation als Grundlage Fotografiere deine Steine und notiere Fundort, Datum und erste Eindrücke. Diese Informationen werden später zu Bausteinen deiner Texte. Ein Beispiel: Ein kantiger Schieferstein vom Rheinufer kann dich an Heines „Loreley“ erinnern – und schon entsteht eine Verbindung zwischen Fundstück und deutscher Romantik.

2. Literarische Spurensuche Durchforste deine Bibliothek nach Stein-Motiven. Goethe beschreibt in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ ausführlich seine Mineraliensammlung. Bei Adalbert Stifter finden sich in „Der Nachsommer“ detaillierte Schilderungen von Gesteinen. Selbst Kafka verwendet in „Das Schloss“ Steinmetaphern für die Undurchdringlichkeit der Bürokratie.

3. Kreatives Schreiben mit Steinen Nimm einen Stein in die Hand und lass ihn sprechen. Ein Feuerstein könnte von prähistorischen Jägern erzählen, ein Bergkristall von Novalis‘ „Heinrich von Ofterdingen“ träumen. Probiere verschiedene Textformen: Haiku, Prosaminiaturen oder Dialoge zwischen dir und dem Stein.

4. Megalithen als Inspirationsquelle Hünengräber und Steinkreise sind natürliche Schauplätze für Lithopoesie. Sie erinnern an literarische Megalithen wie die Steinriesen in Selma Lagerlöfs „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson“ oder die mysteriösen Steinformationen in Arthur Conan Doyles „Das Zeichen der Vier“.

5. Präsentationsformen

  • Steintagebuch: Kombiniere Fotos, Fundnotizen und eigene Texte
  • Literarische Karte: Verknüpfe Fundorte mit passenden Zitaten
  • Stein-Blog: Teile deine Entdeckungen online
  • Lesungen: Präsentiere deine Texte an den ursprünglichen Fundorten

Beispiele aus der Weltliteratur

Die Verbindung von Steinen und Literatur ist jahrhundertealt. In Goethes „Faust II“ wird der Homunculus in einem gläsernen Gefäß geboren – ein Spiel mit alchemistischen Vorstellungen über Kristalle und Leben. Virginia Woolf lässt in „Zu den Leuchttürmen“ ihre Protagonistin Lily Briscoe über die Permanenz von Steinen im Gegensatz zur Vergänglichkeit menschlicher Beziehungen reflektieren.

Besonders reich ist die Stein-Symbolik in der Romantik: E.T.A. Hoffmann verwendet in „Die Bergwerke zu Falun“ Mineralien als Metaphern für die Seele, während Novalis in seinen „Hymnen an die Nacht“ Kristalle als Sinnbilder für Klarheit und Ewigkeit einsetzt.

Auch in der konkreten Poesie finden sich interessante Ansätze: Manfred Butzmanns „Heimatkunde“ verbindet Frottagen von Grabsteinen mit lyrischen Texten und schafft so eine einzigartige Form der Erinnerungskultur. Seine Steinabreibungen werden zu grafischen Gedichten, die Geschichte buchstäblich berührbar machen.

Warum Lithopoesie für mich funktioniert

Lithopoesie ist demokratisch – sie braucht keine Vorkenntnisse, nur offene Augen. Ein herzförmiger Stein spricht jeden an, ein „Gesicht“ im Granit weckt Neugier. Diese unmittelbaren Reaktionen sind der Startpunkt für literarische Entdeckungen.

Der Weg führt vom Sehen über das Assoziieren zum Schreiben – und erst dann zur gezielten Suche nach verwandten Texten. So entsteht eine organische Verbindung zwischen persönlicher Wahrnehmung und literarischer Tradition. Steine werden zu Türöffnern für Literatur, die man sonst vielleicht nie entdeckt hätte.

Vielleicht entsteht dabei ein Gedicht, das wie ein Fossil aus der Sprache bricht. Oder eine kleine Geschichte, die einen Wegrandstein mit einem Buchregal verbindet. Das Ziel ist nicht literarische Perfektion, sondern die Freude am Entdecken: Wie viele unerzählte Geschichten tragen wir in unseren Taschen mit nach Hause?


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