Martin Maurach – Fünf Fragmente, fünf Türen


Annähernd gelesen: Martin Maurach: Leben auf Geistes Schneide

Fünf Zeilen die nicht als Gedicht nebeneinander stehen, sondern als ausgewählte Fragmente aus einer größeren Sammlung. Martin Maurach hat mir dankenswerterweise zur Entstehung geschrieben: Die Redaktion der „Konzepte“ hat aus seinen Prosafragmenten diese fünf ausgewählt und montiert. Der Text ist damit weniger als geschlossene Einheit zu lesen, sondern als Ausschnitt aus einem offenen Korpus. Kein Gedicht, sondern Kürzestprosa. Das ist es, was mich an diesen Fragmenten angesprochen hat: die Einladung, die fünf Türen weiterzuöffnen und den Räumen dahinter Gestalt zu geben. Was daraus entstehen kann, wenn man diese Einladung annimmt, zeigt sich weiter unten.

Leben auf Geistes Schneide

Sich am Morgen wiederfinden wie eine fremde Kuriosität.

Am Tag nach dem Friseurbesuch seine Haare zurückverlangen.

Er sagte, er suchte ein Zimmer zu mieten,
in dem er vor Selbstbeobachtung sicher wäre.

Der seinen Schatten an seinem Fuß festband,
um ihn nicht zu verlieren.

Als Himmelsbildhauer müsse er ständig beim Horizont stehen.

Abgedruckt in: Literaturzeitschrift Konzepte, Ausgabe 39/20 – Seite 85 mit einer Fotografie von Sophia Aujezdsky

Sich am Morgen wiederfinden wie eine fremde Kuriosität. Am Tag nach dem Friseurbesuch seine Haare zurückverlangen. Er sagte, er suchte ein Zimmer zu mieten, in dem er vor Selbstbeobachtung sicher wäre. Der seinen Schatten an seinem Fuß festband, um ihn nicht zu verlieren. Als Himmelsbildhauer müsse er ständig beim Horizont stehen.

Die Auswahl erzeugt den Eindruck von Zusammenhang, ohne ihn herzustellen. Sie zeigt nicht die komplette Struktur, sondern fünf Punkte eines größeren Feldes. Jedes Fragment bleibt eigenständig, ohne syntaktische oder erzählerische Bindung. Die Montage macht daraus ein Set von Blickrichtungen.

Inhaltlich kreisen die Fragmente um ein instabiles Verhältnis zum Selbst: Entfremdung beim Erwachen, ein Wunsch nach Rückgängigmachung, der Versuch, sich dem eigenen Blick zu entziehen, das Sichern des Schattens, das Stehen am äußersten Rand der Welt. Fünf Aspekte desselben Problemfeldes – aber nicht als geschlossene Erzählung, sondern als Ausschnitt einer Serie.

Gleichzeitig bleibt jedes Fragment ein eigener Ansatzpunkt: – ein Moment der Verwandlung, – eine absurde Alltagsszene, – ein Beginn einer möglichen Handlung, – ein Bild aus der Motivwelt des Märchens, – eine Positionierung in einer metaphysischen Randzone.

Fünf Türen, die geöffnet wurden, ohne den dahinterliegenden Raum vollständig zu zeigen. Die Redaktion formt aus einzelnen Miniaturen eine Verdichtung. Der größere Zusammenhang liegt außerhalb des gedruckten Textes – im unpublizierten Rest der Fragmente.

Das ist es, was mich an diesen Fragmenten angesprochen hat: die Einladung, die fünf Türen weiterzuöffnen und den Räumen dahinter Gestalt zu geben.

Fünf Türen, die offenstehen, aber nicht weiter betreten werden. Eine Sammlung von Möglichkeiten. Eine Verdichtung, die bewusst keine Auflösung anstrebt. Das ist es, was mich an diesem Gedicht angesprochen hat und als Einladung an den Lesenden verstehe, die 5 Türen zu öffnen und den Räumen dahinter Gestalt zu geben. (Fortsetzung folgt.)

Der Autor | Martin Maurach, 1965 in Lüneburg geboren, ist Literaturwissenschaftler mit Schwerpunkt auf Neuerer deutscher Literatur, Hörspielästhetik und Kleist-Forschung. Er promovierte 1995 in Siegen und habilitierte 2010 in Kassel, wo er seitdem als Privatdozent tätig ist. Von 1999 bis 2002 arbeitete er als DAAD-Lektor an der Pusan National University in Südkorea, weitere Lehrtätigkeiten führten ihn nach Opava in der Tschechischen Republik. 2003 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Expositionen“ an der Universität Kassel, 2004–2006 im Projekt „Kleist im Nationalsozialismus“ am Kleist-Museum Frankfurt (Oder). Seine wissenschaftlichen Publikationen behandeln u. a. J. M. R. Lenz, die Kleist-Rezeption und Gegenwartsliteratur; dazu kommen Arbeiten zum experimentellen Hörspiel. Prosatexte veröffentlichte er in Neue Rundschau (2010, 2019) und in Hammer + Veilchen (2016).

KONZEPTE | Zeitschrift für Literatur 39/20

Der Text „Leben auf Geistes Schneide“ wird mit freundlicher Genehmigung des Autors abgebildet.

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