Ich greife nach Kafkas Verwandlung,
der Einband, vertraut,
schon wissend: Gregor, Käfer, Entfremdung.
Doch heute steht die erste Zeile
wie ein Fremder an der Tür.
„Als Gregor Samsa eines Morgens …“
Ich stehe am Rand meines Wissens,
warte einen Moment–
überschreite dann über die Linie,
die ersten bekannten Bilder kippen,
der Text arbeitet.
Ich lese mit dem Herzen 
eines Menschen,
der noch keinen Käfer gesehen hat,
wie er aus der alten Haut schlüpft,
sich verpuppt, neu entsteht,
und ich werde mit.
Ich streife weitere
alte Bilder ab.
Zwischen den Zeilen
öffnet sich Raum
für Gregors stilles Leiden,
für die Musik seiner Schwester,
die ich neu höre.
Ich lasse mich wieder ein.
„Man kann nicht ohne Liebe lesen. Wenn man schon zuvor ein Bild von einem Text hat, dann weist man ihn ab.“ – Hélène Cixous.  Lesen erfordert Haltung: Offenheit, Empathie, die Bereitschaft, überrascht zu werden. So verstehe ich diese zwei Sätze.
Wir alle kennen die Versuchung, Texte sofort einzuordnen: Klassiker sind „bereits bekannt“, schwierige Bücher „zu sperrig“. Doch in diesem schnellen Urteil verschließen wir uns vor dem, was Texte uns wirklich sagen können. Liebe im Sinne von Cixous heißt nicht Sentimentalität, sondern Aufmerksamkeit – ein Lesen ohne Vorurteil, ein Aufmachen der inneren Fenster. 
Die obige Gedicht versucht, diesem Gedanken nachzuspüren: Lesen ist nicht Wiedererkennen, sondern Begegnung. Und jede Begegnung kann neu sein – auch mit einem Text, den wir längst zu kennen glauben.
Hélène Cixous (geb. 1937) ist eine französische Schriftstellerin, Philosophin und Literaturtheoretikerin. Sie ist bekannt für ihre Texte über Feminismus, Literatur und das Schreiben als Akt des Denkens und Fühlens. Bekannt ist sie zudem für ihr Konzept der „Écriture féminine“ – einer Schreibweise, die Körperlichkeit, Emotion und Kreativität miteinander verbindet.


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