Den Mund voll ungesagter Dinge
Ein Roman von Anne Freytag
Die Geschichte ist kurz erzählt: Sophie, 17, kurz vor dem Abitur, lebt bei ihrem Vater. Einem Arzt. Der hat eine neue Lebensgefährtin, die in München lebt. Als ihr Vater im Alleingang beschließt zu dieser zu ziehen, muss Sophie mit. Ihre Mutter hatte sich sehr früh von der Familie verabschiedet. So früh, dass die Tochter sich nicht mehr erinnert. Nun muss Sophie also mit und will nicht. In München zieht sie in ein großes Haus und findet dort neben der Lebensgefährtin Lena auch deren zwei Söhne vor und einen Hund. Der für den Teenager zu einem wichtigen Bezugspunkt wird. Das Einleben fällt Sophie extrem schwer, bis sie in der gleichaltrigen Nachbarin Alex eine Freundin und Liebe findet. Wie sich das für einen anständigen Spannungsbogen gehört, gibt es viel gute Laune, Streit, viele Tränen, Sex, Herzschmerz und etwas, das man als Happy End bezeichnen könnte.
Für manche mag ein Schwerpunkt des Buches die LBGT-Thematik sein. Wie man an meiner etwas schwurbeligen Formulierung erkennen kann, für mich nicht. Das hat an einigen Stellen bei mir eher für Verwunderung gesorgt. Was ich an Anne Freytags Buch spannend fand, waren die inneren und äußeren Konflikte, und wie die Autorin diese darstellt.
Die Konflikte, die ich wahrgenommen habe, können in einem Jugendbuch stehen. Aber auch in jedem anderen. Denn die Herausforderungen finden sich in jedem Alter: nicht zu wissen, was man mit seinem Leben (noch) anstellen möchte; dazugehören zu wollen, aber nicht um jeden Preis und doch dazugehören wollen; sich unklar darüber sein, wie man sein Sex- und Liebesleben gestalten möchte; die unterschiedlichen Bedürfnisse in der Familie; zu wissen, was man kann und was nicht; die eigene Sicht auf die Welt im steten Abgleich mit dem, was andere sehen und denken. Und da habe ich mich doch dabei ertappt, dass ich mal Listen anfertigen sollte mit den ungeklärten Dingen, den Lust-Dingen. (Mit Dank an Alex.)
Als Ü50 dieses Buch zu lesen, war eine interessante Erfahrung. Auf der einen Seite ist das Leben der Protagonisten soweit weg, dass mir oft der Zugang schwer fiel. Mit gleichgeschlechtlicher Liebe habe ich mich bisher nur insofern auseinander gesetzt, dass ich mal von einem Mann geküsst wurde. Es gefiel mir nicht. Ansonsten hat es mich einfach nicht interessiert, da es in meinen Augen Privatsache und mir im Grunde auch egal ist, wie andere lieben. Jede(r) wie er, sie, es mag. Von daher war die Frage von Sophie, ob sie lesbisch sei oder „nur“ Alex liebt , eine Randerscheinung beim Lesen. Um sich eingehender damit beschäftigen zu können, hat Anne Freytag das Thema, bzw. die Problematik für manche, zu wenig ausgearbeitet.
Was hat mich nun bewogen, dieses Buch lesen? In erster Linie das Sprachgefühl der Autorin. Klare Kante und doch nicht unterkühlt. Eigentlich wollte ich nur durchblättern und bin dann dabei geblieben. Ihre Art zu beschreiben, hat mich mitgezogen. Was mich überrascht hat: Ich bin beim Lesen wenig emotional; gehe, wenn überhaupt, eher im Kopf mit. Hier jedoch bin ich voll dabei gewesen. Mit Wut, Bauchgrummeln. Der Höhepunkt war die Beschreibung einer ungewollten, aber wohl plotnotwendigen, sexuellen Handlung zwischen Sophie und einem Mitschüler. Diese ausführliche „Erklärung“ des eigentlich nicht Wollens aber über sich ergehen Lassens aus x Gründen war mir fast unerträglich. Ich habe mit einigen „jüngeren Leuten“ gesprochen, die meinten, das sei doch normal. Hm, fände ich schade.
Ich bin da vermutlich zu zart besaitet, oder einfach „raus aus dem normalen Leben“.
Was ich dabei allerdings interessant fand: Die Wahrnehmung Sophies bezüglich Sex mit einem Mann. Ich fühlte mich vor den Kopf gestoßen ob dieser klischeebehafteten Funktion(sweise) des Mannes. Ein Mann ist nichts anderes als ein Pitstop. So ein Reifenwechsel muss halt sein. Ok, interessante Sichtweise aber nicht meine Welt.
Wenn ich in social media die vermeintlichen Diskussionen zu LBGT sehe, gehe ich dem aus dem Weg. Mich erschreckt dieser Sexismus auf beiden Seiten, dieses gegenseitige Abwerten. Mir selbst ist klar, dass ich mich dazu positionieren sollte und dass es zum guten Ton gehört, Frau den Anspruch auf die Deutungshoheit nicht streitig zu machen und dies auch öffentlich zu benennen. Nur: Mir ist das zu intim und ich hatte das auch nicht vor. Jeder Mensch soll machen, was er sie es für richtig hält, aber auch andere Meinungen, Lebensentwürfe akzeptieren. Wenn jemand, wegen was auch immer, diskriminiert, ist das großer Mist.
Warum ich das überhaupt einbringe? Ich habe zahlreiche andere Leseeindrücke in social media gelesen. Manche Leserin hat wohl erwartet, dass dieser Roman eine Art Kampfschrift zu sein hat. Oder eine Art Aufklärungsbuch. Oder vielleicht verstehe ich es nur nicht. In meiner Wahrnehmung ist es „lediglich“ ein gut lesbarer Roman, der einen Lebensentwurf unter vielen beschreibt, der in diesem Fall nicht der meine ist. Der mich in Teilen nachdenklich gemacht hat, weil ich für mich Neues erfahren habe. Und das auf eine mir sympathische Art.
Für mich alten Sack gilt: Ich habe hier vermutlich mehr gelernt, als in den Hetzschriften und der Polemik mancher Feministin. Und gut unterhalten wurde ich auch. Und nun ist mein Mund nicht mehr voll.