„Die verlorene Bibliothek“ ist mehr als eine nostalgische Rückschau. Es ist eine bittere Reflexion über die Ohnmacht der Literatur angesichts totalitärer Gewalt. Was bleibt von den Büchern, wenn die Regale leer sind? Was von den Ideen, wenn ihre Träger vertrieben oder ermordet werden?
Walter Mehring – Chronist des verlorenen Geistes und Mahner der Erinnerung
Wer die kulturelle Blüte der Weimarer Republik kennt – jenes kurze, intensive Aufflackern von Freiheit, Satire und Avantgarde zwischen den Weltkriegen –, der weiß auch um ihre gewaltsame Zerstörung. Walter Mehring (1896–1981), einer der scharfsinnigsten Chronisten dieser Epoche, hat mit „Die verlorene Bibliothek“ (1951) ein Werk hinterlassen, das gleichermaßen Elegie und Anklage ist. Es ist das Resümee eines Mannes, der selbst aus dem Exil zurückblickte: auf die Bücher, die verbrannt wurden, die Menschen, die ermordet wurden, und die Utopien, die mit Füßen getreten wurden. Mehrings persönliche Erfahrung des Exils, die ihn über Frankreich in die USA und schließlich 1953 zurück nach Europa führte, prägt jede Zeile dieses Buches. Er schreibt nicht nur als Beobachter, sondern als einer, der den Verlust am eigenen Leib erfahren hat.
Ein Panorama des Untergangs und die Ohnmacht der Worte
Mehring, dessen Name untrennbar mit dem Berliner Dadaismus und der legendären „Weltbühne“ verbunden ist – für die er messerscharfe Glossen und politische Gedichte verfasste –, entwirft in seinem Buch ein faszinierendes Tableau der bürgerlichen Kultur, die dem Nationalsozialismus zum Opfer fiel. Er lässt die Stimmen der Intellektuellen, Künstler und Literaten jener Zeit wiederaufleben, deren Werke und Leben auf so brutale Weise ausgelöscht wurden. Doch „Die verlorene Bibliothek“ ist mehr als eine nostalgische Rückschau. Es ist eine bittere Reflexion über die Ohnmacht der Literatur angesichts totalitärer Gewalt. Was bleibt von den Büchern, wenn die Regale leer sind? Was von den Ideen, wenn ihre Träger vertrieben oder ermordet werden? Mehring ringt mit dieser Frage und findet darauf keine tröstliche Antwort. Wie er selbst schreibt: „Die Bücher sind verbrannt, die Dichter zerstreut, die Bibliotheken geplündert. Was bleibt, ist die Narbe im Gedächtnis.“
Satire als Waffe, Melancholie als Erbe – Ein Stil zwischen Schärfe und Schmerz
Sein Stil ist, wie immer, elegant und vielschichtig: Mal zitiert er scheinbar beiläufig vergessene Werke, um deren einstigen Glanz und nunmehrige Abwesenheit schmerzlich vor Augen zu führen, mal zeichnet er groteske Porträts der geistigen Brandstifter, die Deutschland ins Verderben führten. Dabei bleibt er der Satiriker, der er schon in den Kabaretts der 1920er war – seine Feder ist nach wie vor scharf und entlarvend. Doch der Ton ist härter, die Trauer unüberhörbar. Die Ironie, einst eine Waffe im politischen Kampf, ist nun von einer tiefen Melancholie durchzogen. Mehring beklagt nicht nur den Verlust der Bücher, sondern auch den Verlust einer ganzen Weltanschauung, eines humanistischen Ideals. Er fragt sich: „Kann man eine Kultur verbrennen? Ja, man kann. Und die Asche weht im Wind der Geschichte.“
Walter Mehring starb 1981 in Zürich, fast vergessen von einer Nachkriegsgesellschaft, die sich nur ungern an die intellektuellen Verluste der NS-Zeit erinnerte. „Die verlorene Bibliothek“ ist sein literarisches Vermächtnis – und eine Mahnung, die heute, in Zeiten neuer Kulturkämpfe und dem Erstarken autoritärer Tendenzen, wieder erschreckend aktuell wirkt. Seine Worte gewinnen eine neue Dringlichkeit, wenn er schreibt: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“
Ein Klassiker der Exilliteratur, neu zu entdecken für alle, die verstehen wollen, was es bedeutet, wenn eine Zivilisation ihre eigenen Grundlagen zerstört. „Die verlorene Bibliothek“ ist mehr als ein Buch – es ist ein Denkmal für den verlorenen Geist einer Epoche und eine eindringliche Erinnerung daran, wie fragil Freiheit und Kultur sein können.
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