„Wie liest man ein Gedicht, das einen nicht meint?

Konkret geht es um dieses Gedicht von Safiye Can: Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung

Das Gedicht im Wortlaut (gekürzt):
„Frauen / kauft von Frauen / lest von Frauen // […] / bildet eine Faust / werdet laut! // […] / Die Welt muss lila werden.“

Was steht da?
Die Autorin richtet sich in direkter Ansprache an Frauen. In kurzen, imperativischen Zeilen fordert sie sie auf:

  • Solidarisch zu handeln („kauft von Frauen“, „steht zueinander“),
  • Sich zu organisieren („schließt euch zusammen“, „bildet eine Faust“),
  • Ihre Macht zu erkennen („erkennt eure Kraft“).
    Das wiederholte „Frauen“ wirkt wie ein Aufruf zur kollektiven Identität. Das Ziel ist explizit: eine radikale Veränderung („Die Welt muss lila werden“).

Wie sagt sie es?

  • Form: Kein Reim, keine Metaphern – die Sprache ist knapp, fast manifestartig.
  • Ton: Dringlich, aber nicht wütend; der Fokus liegt auf Empowerment, nicht auf Anklage.
  • Symbolik: „Lila“ als Farbe des Feminismus steht für die utopische Vision.

Was fehlt?
Männer werden nicht erwähnt – weder als Gegner noch als Verbündete. Das Gedicht kreist ausschließlich um weibliche Selbstermächtigung.

Ein Text, der klar positioniert ist. Und ich? Als männlicher Leser stehe ich daneben – nicht als Adressat, aber auch nicht als Feindbild. Nur als jemand, der plötzlich spürt: Hier geht es um etwas, das mich nicht einschließt oder doch!? Und genau das wirft Fragen auf.


Ein Gedicht, das mich nicht meint – und warum ich es trotzdem lese

Ich blättere durch „Poesie und PANDEMIE“ – ein Gedichtband über Liebe, Politik, Natur. Dann dieser Text: Ein Aufruf an Frauen, sich zu verbünden, laut zu werden, die Welt „lila“ zu färben. Die Sprache ist bestimmt, die Bilder kraftvoll. Und ich? Ich komme darin nicht vor.

Das ist legitim. Kunst, Literatur muss nicht alle einschließen. Kann es auch nicht. Doch warum hinterlässt das ein Gefühl Fremdkörper zu sein? Nicht, weil ich mich angegriffen fühle – sondern weil der Text mich zwingt, meine Position zu reflektieren:

  • Als Leser: Wie verstehe ich eine Botschaft, die nicht für mich bestimmt ist? Wie will ich mit dem Text umgehen?
  • Als Mann: Was bedeutet es, in einer Debatte Adressat statt Adressant zu sein?

Vielleicht ist das die Absicht: Literatur, die ausschließt, um Bewusstsein zu schaffen. Die mir keine Rolle anbietet – außer die des Zuhörenden.

Ich könnte weiterblättern. Aber das wäre zu einfach. Stattdessen stelle ich Fragen:

  • Wie liest man, was einen nicht meint?
  • Wann ist Exklusivität notwendig – und wann wird sie zum Hindernis?

Ich halte das fest, weil Unsicherheit produktiv sein kann. Und weil ich wissen will: Wie gehen andere mit Texten um, die sie ignorieren – und trotzdem etwas auslösen?


Eine Irritation als Geschenk

Manchmal stolpert man über Worte, die einen ausschließen – und gerade das macht sie wertvoll. Dieses Gedicht, gerichtet an Frauen, ließ mich zunächst fragend zurück. Doch indem ich es nicht weglegte, sondern als Spiegel nutzte, schenkte es mir etwas Unerwartetes: eine Reise zu den Frauen meiner Familie, eine Ahnung von feministischer Lyrik – und am Ende sogar eigene Verse.

Die drei Gaben des Gedichts und ein Dank an Frau Can

Selbstreflexion
Ich habe Aufruf als Anstoß genommen, um die Rollenbilder der Frauen in meiner Familie zu hinterfragen: meine Mutter die sich ‚klein atmete‘ – und die Freude, dass meine Tochter auf einem guten Weg ist.

Historische Einordnung
Dies ist kein ‚Männer-Bashing‘, sondern Teil einer langen Tradition. Frauen mussten und müssen sich Räume erst erkämpfen – auch wenn das für mich als Mann erstmal wie ein Ausschluss, ein Ausgrenzen wirkt. Dieses Gefühl wiederum führt mich dazu, meine eigene, fehlende Initiation nachzuholen.

Kreative Antwort
Aus der Leerstelle, die das Gedicht in mir ließ, entstand mein eigener Text – kein Widerspruch, sondern ein Echo. Vielleicht ist das die höchste Form des Dankes: dass Ihre Worte mich zum Schreiben brachten. >Lila und Blau<

Der Kreis schließt sich
Ein Gedicht ist kein Gefängnis – es ist ein Fenster, das man erst von außen putzt, dann von innen.

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