wir ich & du & du

Das Gedicht aus Günter Abramowskis Band Wer ist wir lotet das Spannungsfeld zwischen kollektiver Identität und individueller Selbstbestimmung aus. Zentrale Motive und Strukturen möchte ich wie folgt deuten:

  1. Wir vs. Ich & Du
    Die Wiederholung von „wir ich & du & du“ am Anfang und Ende verweist auf ein dialektisches Verhältnis: Das Kollektiv („wir“) besteht aus Individuen („ich“, „du“), die zugleich Teil der Gruppe und eigenständige Akteure sind. Die Syntax löst Hierarchien auf – das „Wir“ ist kein homogenes Ganzes, sondern ein Gefüge aus Einzelnen.
  2. Herdendenken vs. Freigeister
    Die „Identität / der Herde“ steht im Kontrast zu den „einzelne[n] immer / freigeister[n]“. Die Herde symbolisiert Konformität und kollektive Normen („Maß des Machbaren“), während die „Freigeister“ sich durch transzendentes Denken („übers denken hinaus“) und erfahrungsbasiertes Leben abgrenzen. Die Zeilen deuten auf eine Kritik an gesellschaftlicher Vereinheitlichung hin.
  3. Ungehorsam als Ideal
    „Vorbild im Ungehorsam“ betont die Abkehr von Konsenszwängen („den im Konsens verlorenen“). Der „Ungehorsam“ wird zur Tugend erhoben – ein Widerstand gegen Assimilation, der Individualität bewahrt. Die Formulierung „geschieden seit Ewigkeiten“ unterstreicht eine historisch tief verankerte Trennung zwischen Konformisten und Nonkonformisten.
  4. Selbstsuche im Anderen
    Die Schlusszeilen „universeller Natur / Suchen uns selbst / im Angesicht des anderen“ verbinden das Individuelle mit dem Universellen. Die Identitätsfindung erfolgt nicht isoliert, sondern durch Spiegelung im Gegenüber – ein existentialistischer Zug, der Anerkennung und Dialog als Weg zur Selbsterkenntnis begreift.

Formale Aspekte:

  • Die Verwendung von Schrägstrichen (/) statt Satzzeichen schafft einen fragmentarischen Rhythmus, der die Brüche zwischen Kollektiv und Individuum formal abbildet.
  • Die sparsame, verdichtete Sprache („leben erfahrend“) betont Handlung und Prozesshaftigkeit über statische Zustände.

Zusammenfassend reflektiert das Gedicht die Paradoxie von Zugehörigkeit und Autonomie, wobei es die individuelle Selbstbehauptung gegen kollektive Vereinnahmung stellt – ohne eine Seite eindeutig aufzulösen.

Dieses Gedicht ist auf der Rückseite des Gedichtbandes abgedruckt.

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