mit den andern am Meer - Ille Chamier - Tagtexte

Zwei Sekunden europäisches Schweigen

Annähernd gelesen | Ille Chamiers Gedicht „mit den andern am Meer“ aus Tegtexte.

Das Gedicht mag in erster Linie eine sehr private Momentaufnahme sein,; dennoch lässt sich die Metapher vom ‚europäischen Schweigen‘ über die rein persönliche Ebene hinaus interpretieren. Indem ich die nationalen und historischen Hintergründe der vermuteten Protagonisten – die deutsche Autorin, ein Mensch mit pommersch-polnischer Familiengeschichte – sowie den Ort der Handlung in den Niederlanden einbeziehe, versuche ich, die politisch-kulturellen Schichten freizulegen, die in diesem scheinbar intimen Schweigen mitschwingen.“


… mit gut zwei europäischen Sekunden Schweigen zwischen dir und mir. – Diese zwei Zeilen wirken wie ein seismographischer Nadelstich. Sie messen nicht Lärm, sondern Stille – eine Stille, die Europa in sich trägt. Geschrieben von einer deutschen Dichterin, die mit ihrem Mann, dessen Familie einst aus dem pommersch-polnischen Grenzland vertrieben wurde, am holländischen Strand liegt, wird dieses Schweigen zum Schlüsselloch, durch das wir auf den ganzen Kontinent blicken.

Hat dieses Cover etwas mit dem Gedicht zutun?

Strandbild mit Wunden:
Man sieht sie fast vor sich: erschöpfte Körper im Sand, Körnchen in den Schuhen, Haut grau und „sonnlichtfahl“. Um sie herum das Geräusch vorbeigehender Füße, ein aufholländisch gezähltes Lachen. Doch zwischen diesen beiden Menschen – der Deutschen und dem Nachkommen Vertriebener – klafft etwas anderes: kein Leerraum, sondern eine Stille voller Geschichte(n). Diese „zwei Sekunden“ sind kein Versehen, sie sind die Mitte des Gedichts, sein schmerzhaft-poetisches Herzstück.

Warum ist dieses Schweigen „europäisch“?
Weil es mehr umfasst als zwei Menschen. Es ist ein stummer Dialog der Erinnerungen:

Deutsche Gegenwart: Die Autorin (& Protagonistin ?), Erbin einer Tätergeschichte, die selbst am Meer nicht abgewaschen wird.
Polnisch-pommersche Vergangenheit: Das Schicksal des Mitmenschen – Heimatverlust, Entwurzelung, das Schweigen der Vertriebenen.
Niederländischer Boden: Der Strand als neutraler, aber symbolträchtiger Ort – ein Land, das deutsche Besatzung erlitt, nun Schauplatz stiller Versöhnung wird.

Was geschieht in diesen zwei Sekunden?
Es ist kein Verstummen aus Gleichgültigkeit. Es ist ein kollektives Einatmen des Kontinents:

Schweigen als Anerkennung: Das Unausgesprochene zwischen Deutschen und Polen, zwischen Schuld und Verlust, wird nicht ignoriert, sondern gemeinsam ausgehalten.

Schweigen als Versöhnungsakt: Auf niederländischem Sand – fern der umkämpften Heimat Pommerns – entsteht ein flüchtiger Raum des Friedens. Nicht durch Verträge, sondern durch geteilte Stille.

Schweigen als Widerstand: Gegen das laute Vergessen. Gegen das Vereinfachen komplexer Geschichte. Diese Sekunden bewahren, was Worte oft zerstören: die Mehrdeutigkeit der Erinnerung.

Sandkörner der Zeit

Wie die „Körnchen“ in den Schuhen der Figuren bleibt auch dieses europäische Schweigen haften – klein, fast unsichtbar, aber spürbar. Es erinnert daran, dass Europas Einheit nicht nur in Parlamenten entsteht, sondern in solchen Mikromomenten der Menschlichkeit. Der Strand wird zur Bühne: Das Lachen der anderen („einer lacht, ich seh es„) kontrastiert scharf mit der Intensität der Stille zwischen den Liegenden. Europa zeigt sich hier nicht als politisches Projekt, sondern als geteiltes Empfinden im Angesicht einer verstörenden Geschichte.

Die Poesie des Unausgesprochenen
Die Größe dieses Gedichts liegt nicht in pathetischen Worten, sondern im Mut zur Stille. „Zwei Sekunden europäisches Schweigen“ sind ein poetisches Denkmal für all das, was zwischen Völkern ungesagt bleibt – und doch verstanden wird. Es ist eine Einladung, Europas Identität nicht nur in Debatten zu suchen, sondern auch in diesen stillen Intervallen, in denen die Wellen des Vergangenen an den Strand der Gegenwart schlagen.
Denn manchmal sagt ein Schweigen zwischen dir und mir mehr über Europa aus als alle Reden.


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