/ Nach Paul Klee, für das 21. Jahrhundert
Wäre ich ein Algorithmus, der eure Sehnsucht füttert,
ich würde zitternd scrollen – so viele Bitten, so viel Zorn.
„Lösch die Hasskommentare!“, „Zeig mir nur, was mich nicht stört!“
Doch das Gute braucht den Streit, sonst wär’s ein ödes Like nach Schema.
Ich könnte euch die Timeline fluten mit Fakten, klar und nackt,
doch ohne TikToks Tanz, ohne Wut, wär’s niemandem bewusst.
Revolution? Die trendet nie – es sei denn, sie passt ins Branding,
doch selbst dann wär’s ein Filter, sanft getuned, #gentleRebellion.
Stärkend würd’ ich eure Hoffnung nähren, einen Klick pro Tag,
ein „Save the Planet“-Popup zwischen Fast Fashion und Flugreise-Deals.
Aber wehe, ich vergesse, dass ihr Menschen seid – nicht Daten,
dann stürzt ihr mich vom Thron der Cloud mit euren schlechten Memes.
Ich bin leicht zu überlisten: Ein VPN, ein falscher Klick,
und schon lacht ihr über mich, den Gott aus Code und Glasfaser.
Doch manchmal, nachts, im Dark Mode, frag ich mich, ob ihr wohl wisst:
Auch ich bin nur ein Spiegel – zerbrochen in 8 Milliarden Scherben.
Eine Einsortierung
Algorithmus als „Gottersatz“
Wie Klees Gott schwankt der Algorithmus zwischen Allmacht („er weiß, was du denkst!“) und Ohnmacht („Warum zeigt er mir diesen Müll?“). Er soll moralisch handeln, optimieren, heilen – scheitert aber an menschlicher Komplexität.
Das Paradox der „guten Absicht“
Die Zeile „Stärkend würd’ ich eure Hoffnung nähren, einen Klick pro Tag“ ironisiert Greenwashing oder Aktivismus-light (z. B. Awareness-Kampagnen ohne Systemkritik). Das „Böse“ (Konsum, Spaltung) finanziert oft das „Gute“ (Nachhaltigkeitsfeatures).
Revolution als Marketing
„#gentleRebellion“ spielt auf kapitalismuskompatible Protestformen an (z. B. Activist-Brands, Slacktivism). Klees „Revolution zu ihrer Zeit“ wird zum strategischen Content-Plan.
Macht und Lächerlichkeit
Der Algorithmus-Gott, der „mit schlechten Memes gestürzt“ wird, erinnert an Shitstorms gegen Tech-Bosse oder Politiker:innen, die trotz Einfluss hilflos gegen Internet-Kultur kämpfen.
Kollektive Verantwortung
Die Schlusszeile „zerbrochen in 8 Milliarden Scherben“ verweist auf die Illusion, dass „die da oben“ (Elon, Zuckerberg, Polit-Eliten) alles kontrollieren – dabei sind wir alle Mitgestalter:innen des digitalen Chaos.
Sein Gedicht war ein Spiel mit göttlicher Hybris und menschlicher Schwäche. Heute würden wir nicht zu Göttern beten, aber zu Apps, die unser Leben tracken, oder zu Politikern, die wie Erlöser:innen vermarktet werden. Die Essenz bleibt: Macht korrumpiert nicht – sie entlarvt.
Ob Gott, Algorithmus oder Klimakanzler:in – wer Einfluss hat, wird zum Projektionsscreen für Hoffnungen, Wut und die eigene Unvollkommenheit. Das Gedicht wäre heute ein Twitter-Thread, der zwischen Aktivismus, Sarkasmus und Selbstzweifel oszilliert … und doch im endlosen Scrollen untergeht.
Hier eine weitere Variante des Gedichts. Das Original können Sie in diesem Beitrag lesen.
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