Annähernd gelesen 2 | Das Gedicht o. T. – beginnend mit der Strophe „Ich habe das Wasser gebogen“ – entfaltet sich als dichte, bildgewaltige Parabel über Macht, Ohnmacht und die Grenzen menschlicher Kontrolle. Je nach Lesart lassen sich naturmythische, psychologische, existenzielle und sogar politische Ebenen erschließen. Im Zentrum steht das Scheitern des lyrischen Ichs im Kampf gegen das Wasser – ein Symbol für das Unbeherrschbare, sei es Natur, Emotion, Zeit oder soziale Kräfte.
Naturmystische Lesart: Der Kampf gegen das Element
Das Gedicht inszeniert einen archaischen Machtkampf zwischen Mensch und Natur. Das Wasser wird personifiziert: Es „schlüpft“, „frisst“, „lächelt“ und „röchelt“ – mal listig, mal gewaltsam.
- Stufe 1: Sanfte Kontrolle („biegen“) → Das Wasser entweicht wie Fische.
- Stufe 2: Gewalt („schlagen“) → Das Wasser verschlingt den Stock und zeigt sich überlegen („runder Rücken“ als Welle + spöttisches Lächeln).
- Stufe 3: Technologische Zähmung („kochen“) → Das Wasser revoltiert als Dampf, Wolkenbruch und Hagel.
Deutung: Die Natur lässt sich nicht bezwingen. Jeder Eingriff führt zur Eskalation – bis zur Vernichtung des Menschen („mehliger Staub“). Das Gedicht erinnert an mythologische Strafen (wie die Sintflut) oder ökologische Warnungen: Hybris wird bestraft.
Psychologische Lesart: Gefühle und Selbstauflösung
Das Wasser steht für unkontrollierbare Emotionen (Liebe, Wut, Trauma), die das Ich zu bändigen versucht – und scheitert.
- „Biegen“: Verdrängung oder Manipulation von Gefühlen → Sie entgleiten.
- „Schlagen“: Unterdrückung (z. B. Wut) → Die Emotion schlägt zurück („fraß den Stock“).
- „Kochen“: Verzweifelter Versuch, Gefühle „auszulöschen“ → Sie explodieren („Hagel“) und zerstören das Ich.
Katastrophe: Am Ende ist das Ich entpersonalisiert („dachte nicht, dass ich Körper sei“) und verliert sogar die Erinnerung an Zärtlichkeit („Kinn in deiner Hand“). Dies könnte auf psychische Zerrüttung hinweisen: Wer Gefühle gewaltsam unterdrückt, riskiert Selbstverlust.
Existenzielle Lesart: Zeit, Vergänglichkeit und Ohnmacht
Das Wasser symbolisiert hier die Zeit oder das Schicksal – unaufhaltsam und vernichtend.
- „Zermahlene Zeiten“: Alle Versuche, Zeit zu „biegen“ (Jugend zu erhalten, Tod abzuwenden) scheitern.
- Staub: Symbol für Sterblichkeit („Asche zu Asche“). Das Ich wird zum Nichts, vergisst sogar seine eigene Körperlichkeit.
- Verlust der Erinnerung: Die letzte Zeile deutet auf entmenschlichte Vergänglichkeit hin – als sei selbst die Liebe nur ein flüchtiger Moment in der zermahlenen Zeit.
Politische Lesart: Rebellion der Unterdrückten
Das Wasser könnte für soziale Kräfte stehen (das Volk, unterdrückte Gruppen), das sich gegen Gewaltherrschaft wehrt.
- „Biegen“: Propaganda oder „Formung“ der Massen → Sie entziehen sich.
- „Schlagen“: Brutale Unterdrückung → Das Wasser „frisst den Stock“ (Revolution?).
- „Kochen“: Versuch der totalen Kontrolle (Diktatur) → Systemzusammenbruch („Hagel“ als Strafe).
Staub als Warnung: Am Ende bleibt nur die Asche der Geschichte („wie alle zermahlenen Zeiten“). Die letzte Zeile könnte auf verlorene Solidarität hindeuten: Der Unterdrücker erinnert sich nicht einmal mehr an menschliche Nähe.
Ein Gedicht über die Unmöglichkeit von Kontrolle
Alle Lesarten verbindet das Motiv des scheiternden Machtanspruchs:
- Gegen die Natur → Ökologische Selbstzerstörung.
- Gegen die eigenen Emotionen → Psychischer Kollaps.
- Gegen die Zeit → Existenzielle Vergeblichkeit.
- Gegen soziale Kräfte → Historische Nemesis.
Das Wasser ist dabei mehrdeutig lebendig: mal listig, mal grausam, mal gleichgültig. Sein „Lächeln“ in Strophe 2 könnte Arroganz des Stärkeren zeigen – oder die Indifferenz des Universums gegenüber menschlichem Leiden.
Das Ende ist radikal: Nicht nur der Körper, auch die Erinnerung an Liebe wird ausgelöscht. Damit wird jede Lesart zur Tragödie: Egal, wogegen das Ich kämpft – es verliert am Ende sich selbst.
Das Gedicht ist wie ein prismatischer Kristall – je nach Lichteinfall zeigt es neue Facetten. Ob Naturgewalt, seelischer Abgrund oder politische Allegorie: Es fordert Demut angesichts des Unkontrollierbaren. Die einzige Gewissheit ist die eigene Vergänglichkeit – staubfein und ohne Echo.
Hier meine erste Lesart des Gedichts.
Erstveröffentlichung in: Gezinktes Licht – Handedition Textille, 2003 – (Fehlt noch in meinem Bestand.) Entnommen aus: Bekannt trifft Unbekannt | Eine Lyrikreihe mit Gesprächen im onomato. Herausgegeben und kuratiert von Frauke Tomczak.
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