Frauke Tomczak - Zwei Ewigkeiten in drei

Frauke Tomczak – Zwei Ewigkeiten in drei

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Annähernd gelesen | Zwei Ewigkeiten in drei schildert, wie das lyrische Ich „in der Ecke“ steht – nicht orientierungslos, sondern gezwungenermaßen im Dreieck von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Dieser symbolische Dreiklang wird zur Falle: eine „Triangel-Ecke“, in der sich das Ich verunsichert, beschämt und fragmentiert fühlt. Es bewegt sich unsicher zwischen Zuspruch und Urteil – das rechte Bein beschämt sich für den Vater, das linke für den Sohn – immer im Rhythmus der religiösen Autoritäten.

Die dritte Instanz, der Heilige Geist, bleibt diffus: ein „drittes Bein im Gewirr“, diffus, ungreifbar, im Raum aber spürbar. Doch der Mensch selbst besitzt nur zwei Beine – ein unüberbrückbarer Mangel im Vergleich zur Dreifaltigkeit: „am Ende aus Not vielleicht vier“ – ein groteskes, resignatives Bild von einem verzweifelten Versuch, göttliche Vollkommenheit zu erreichen.

Der Lehrer schließlich – dessen Stimme ein scharfes „Schluss!“ erklingt – betritt die Szene. Er wirkt wie eine Brücke zwischen der göttlichen und der weltlichen Instanz: seine Stimme hebt eine Grenze, spricht Urteil („die Kante!“) und löst die Fixierung auf die Scham-Ecke. Doch seine Intervention bleibt oberflächlich: Das Seelenchaos im Inneren bleibt bestehen.

Körperlichkeit der Scham

Die Scham ist nicht abstrakt, sondern manifestiert sich körperlich: Die Beine selbst „schämen“ sich, werden zu Marionetten in einem inneren Ritual, das fast foltert. Es ist ein körperlicher Tanz, der das Überwältigtsein durch göttliche und pädagogische Autorität zeigt.

Mechanik der Andacht – Parodie des Gebets

Das fortlaufende Hinkeln zwischen Vater und Sohn erinnert an mechanische betende Rituale, etwa den Rosenkranz: Wiederholung ohne echte Umkehr, nur Bewegung statt wirklicher Nähe. Doch statt Trost oder Erlösung verstummen die Gebete in Lähmung.

Das vierte Bein als apokalyptische Vision

Die letzte Andeutung, „vielleicht vier“ Beine zu haben, wirkt wie ein grotesker Versuch des Menschen, seine Fragmentierung zu überwinden. Diese „Mutation“ wirkt eher wie Absurdität denn Hoffnung – ein sarkastischer Kommentar aufs Streben nach Vollkommenheit: Der Mensch wird nicht heil, sondern monströs.

Autorität und Erziehung – Lehrer als Gericht

Die Stimme des Lehrers wird zur Autoritätsfigur, die religiöse und weltliche Instanz verschränkt. Scham – ein pädagogisches Instrument – wird nicht zur Reflexion genutzt, sondern als Machtmittel: Disziplinierung durchs Urteil. Anders als ein Lehrer, der Selbstverantwortung fördern sollte, verfestigt er nur die Demütigung.

Existenzielle Fragmentierung

Zentral ist die Einsicht: Der Mensch bleibt fragmentiert, unfähig, die göttliche Dreiheit zu verkörpern. Er ist ein „zweibeiniges Fragment“, das zwischen Urteil und Gnade schwankt, unfähig, den göttlichen „dritten Punkt“ – den Heiligen Geist – zu integrieren. Die Ecke, die Scham, die Bewegung – all das ist ein Spiegel innerer Zerrissenheit.

Frauke Tomczak entwirft hier ein bedrückendes Bild des Menschen in der Scham‑Ecke – gefangen im Dreieck von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Dieses existenzielle Gefängnis macht das Ich körperlich spürbar: Die Beine „schämen“ sich aktiv, schwingen mechanisch im ritualisierten Wechsel zwischen Urteil und Gnade. Der Heilige Geist bleibt ungreifbar – ein drittes Bein im Gewirr, im Gegensatz zur greifbaren Bewegung zu Vater und Sohn.

Das finale Bild der vier Beine wirkt wie ein apokalyptischer Reflex, ein grotesker Versuch, der inneren Fragmentierung Herr zu werden – zugleich Kritik an einer vergeblichen Suche nach Vollkommenheit. Der Lehrer schließlich übernimmt die Rolle einer weltlichen Autoritätsinstanz, spricht ein scharfes „Schluss!“, hebt die Handlungsebene, aber löst die innere Zerrissenheit nicht auf. Statt Selbstwerdung schafft er nur neue Grenze, neues Urteil.

In seiner Gesamtheit ist das Gedicht eine wehmütige Analyse menschlicher Unvollständigkeit: Der Mensch bleibt in Scham stecken, unfähig, die göttliche Dreifaltigkeit zu verkörpern – und die Versuche, dieses Vakuum zu füllen, wirken grotesk und vergeblich. Die Ecke, der Tanz, die Stimme des Lehrers – all das spiegelt unser Ringen um Selbstwerdung und unser Scheitern angesichts göttlicher Allmacht.

Veröffentlicht 2011 – Das vollständige Gedicht können Sie auf den Seiten des Poetenladen-Verlags lesen.


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