bekannt trifft unbekannt - onomato

Bekannt trifft Unbekannt – Ed. 2

LektüreNotizen | Aufmerksam geworden bin ich auf diese Reihe durch meine Recherchen, Texte von Ille Chamier zu finden. Daher stehen ihre Lesung und das Gespräch mit Norbert Hummelt – moderiert von Frauke Tomczak – im Vordergrund.

Aus den Vorwort: Hannes Böhringer über die Sprache

Hannes Böhringer beginnt sein Vorwort mit einem prägnanten Gegensatz zwischen Mensch und Tier: Zwar sprechen und singen auch Vögel oder Wale, und Krähen sowie Affen nutzen Werkzeuge – doch nur die menschlichen Werkzeuge, Maschinen und die Sprache wachsen uns zunehmend über den Kopf. Diese Unterschiede zwischen Mensch und Tier sind fließend und lassen sich nicht klar abstecken.

Ein entscheidender Wendepunkt in der menschlichen Entwicklung war die Aufrichtung des Körpers. Durch sie wurden das Becken verschoben, die Geburten komplikationsreicher, die Körperbehaarung weniger, Hände ausgebildet. Neugeborene verloren ihre Fähigkeit, sich im Fell der Mutter festzuhalten – ein Umstand, den Anthropologin Dean Falk beschreibt. Ihre These: Weil Mütter ihre Kinder ablegen mussten, entstand für Sprache und Gesang ein neues Einsatzfeld – die Überbrückung von körperlicher Trennung und Distanz.

Diese Erfahrung der „Entfernung“ zieht sich als Leitmotiv durch Böhringers Betrachtung: Wir sind entfernte Angehörige der Natur, des einfachen Lebens, uns selbst und sogar Gottes. Unsere Sprache trägt Trennung – und zugleich den Versuch, sie zu überwinden. Der Reiz der Ferne und die paradoxe Hoffnung, sie durch Kommunikation aufzuheben, erzeugen eine eigene Magie – eine Art Telekommunikation in einem weiten Sinn.

Im zweiten Teil wechselt der Ton: Böhringer beschreibt Schlafgewohnheiten von Kindern – Stofftiere als Trostspender, Mütter singen ihre Kleinen in den Schlaf. Federico García Lorca wird vorgestellt, der in spanischen Wiegenliedern eine besondere Intensität erkennt: Anders als in vielen europäischen Liedern erzeugten sie nicht nur Ruhe, sondern auch Schrecken und eine kathartische Reinigung der Leidenschaften.

Die „Muttermilch der Sprache“ im Schlaflied – so lässt sich Böhringers Metapher deuten – nährt das Kind sprachlich und emotional. Doch Lorca weist auf zwei gegensätzliche Rhythmen hin: Das Schaukeln und Wiegen kontrastiert mit der fortlaufenden Melodie. Der Text beschreibt das Wiegenlied als Mischung aus Beruhigung und Beunruhigung, das das Kind mit rätselhaften Bildern in ein unabschließbares Geschehen zieht.

Ein konkretes Beispiel liefert Lorca aus Granada:
„A la nana, nana, nana / a la nanita de aquel / que llevó el caballo al aqua / y lo dejó sin beber.“
Enrique Beck übersetzt frei:
„Schlaf nur, schlafe, schlafe nun… der das Pferd ließ ohne Tränke, als er es zum Wasser bracht.“

In dieser Bildebene erschließt sich die zentrale Metapher des Textes: Das Kind sieht aus der Ferne einen, der das Pferd an den Trunk führt – ohne dass es trinken darf. Der Reiz, die Verlockung und die Frustration liegen nahe beieinander. Es entsteht eine Lücke, ein Rätsel ohne Lösung, eine unerreichbare Ferne.

Sprache schenkt uns Bilder und Bedeutung – wir saugen sie wie Milch auf –, und doch bleibt der Zugang zur „Tränke“ versperrt: Das Erleben, das wirkliche Verstehen – es bleibt verborgen. Die „Milch“ reicht, um uns zu nähren, nie jedoch, um uns vollständig zu sättigen.

Aktuelle Lektüre. Notizen folgen.

Frauke Tomzcak eröffnet das Gespräch mit der Nebeneinanderstellung zweier Gedichte: margueriten (Norbert Hummelt) und Rosenstock Holderblüh (Ille Chamier). Zwei unterschiedliche Generationen sprechen über den 2. Weltkrieg. Hummelt (*1962) spricht durch die rekonstruierte Stimme seiner Mutter und Chamier (*1937) aus eigener – reflektierter – Erinnerung. ToDo: Beide Gedichte annähernd lesen und vergleichend interpretieren.

Annähernd gelesen: margueriten
Annähernd gelesen: Rosestock Holderblüh

Informationen zu Hannes Böhringer:
Hannes Böhringer, geboren 1948 in Hilden, ist ein deutscher Philosoph und Autor, dessen Werk sich schwerpunktmäßig mit Ästhetik, Kunsttheorie und der Philosophie der Technik auseinandersetzt.
Böhringer studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik und wurde 1980 an der Universität Marburg promoviert. Er lehrte an verschiedenen Hochschulen, darunter an der Hochschule der Künste Berlin (heute UdK Berlin) und der Hochschule für Gestaltung Offenbach.
Sein Denken zeichnet sich durch eine kritische Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft und ihren Technologien aus. Er hinterfragt gängige Vorstellungen von Fortschritt und Kreativität und widmet sich intensiv der Beziehung zwischen Mensch, Kunst und Technik. Dabei spielt oft der Begriff des „Handwerks“ eine zentrale Rolle, den er als Gegenentwurf zur rein industriellen oder digitalen Produktion versteht.
Zu seinen bekanntesten Werken zählen unter anderem:
„Das Parkett, das keinen Boden berührt. Über die Kunst und das Handwerk“
„Der entfesselte Prometheus: Eine kleine Geschichte der Technik“
„Die Rückkehr der Dinge“
Hannes Böhringer ist bekannt für seinen prägnanten Stil und seine Fähigkeit, komplexe philosophische Gedanken anschaulich zu vermitteln.

Titelfoto: Marc Roederer


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