Das Gedicht „Klarstellung“ konfrontiert das lyrische Ich mit einer beschädigten Puppe und zwingt es in eine vielschichtige Reflexion über Schuld, Verantwortung und Wahrnehmung. Die zentrale Metaphorik kreist um das verstörende und mehrdeutige Bild der Puppe mit den „leeren Augenhöhlen“. Puppen sind traditionell Kinderspielzeug, Objekte der Fürsorge und Projektion – hier aber ist sie beschädigt, ihrer „Augen“ beraubt. Diese Verletzung macht sie paradoxerweise zu etwas, das „sieht“ – nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Blindheit.
Die räumliche Gefangenschaft des „Laufstalls“ evoziert Kindheit und Schutz, wird aber zur Gefängnismetapher. Das „Netz“ mit „vergitterter Einsicht“ suggeriert sowohl physische Einschränkung als auch begrenzte Erkenntnis, wobei eine interessante Doppeldeutigkeit entsteht: Wer ist hier eigentlich gefangen – die Puppe oder das beobachtende Ich? Der anklagende Blick der „vorwurfsvollen“ leeren Augenhöhlen schafft ein Paradox, denn wie kann etwas ohne Augen anklagend blicken? Diese Unmöglichkeit verstärkt die psychologische Wirkung, da der „vorwurfsvolle“ Blick nicht von außen kommt, sondern aus dem Inneren des Betrachters zu entspringen scheint.
Warum auf mich?
Die abschließenden Zeilen offenbaren eine defensive Haltung: „Warum auf mich?“ und „Mich trifft keine Schuld“. Diese Abwehr wirkt fast zu vehement für eine harmlose Puppenbegegnung und lässt vermuten, dass hier tieferliegende Schuldgefühle angesprochen werden. Das Gedicht thematisiert dabei den Akt des Sehens selbst: „Umgeben von lauter Sehenden“ – alle können sehen, nur die Puppe nicht. Doch gerade sie scheint am intensivsten zu „schauen“ und kehrt damit normale Machtverhältnisse um, indem sie den Sehenden zum Objekt des blinden Blicks macht.
Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die Puppe tatsächlich das Objekt einer Projektion ist. Sie wird instrumentalisiert und muss als Stellvertreter herhalten für etwas, was eigentlich nichts mit ihr zu tun hat. Die Puppe ist bereits beschädigt und wird nun auch noch mit fremder Schuld beladen. Das lyrische Ich projiziert seine Schuldgefühle auf dieses hilflose Objekt, das sich nicht wehren kann, und macht es zum stummen Ankläger, obwohl sie selbst das Opfer ist. Diese doppelte Viktimisierung zeigt sich darin, dass der Puppe erst ihre ursprüngliche Funktion genommen wird und sie dann für etwas verantwortlich gemacht wird, wofür sie gar nichts kann. Die Umkehrung der Verantwortung wird besonders deutlich in der Art, wie das lyrische Ich die Rollen vertauscht: Statt die eigene Projektion zu erkennen, macht es die Puppe zum aktiven Ankläger und weist Schuld von sich, die es selbst der Puppe zugeschrieben hat.
Diese Perspektivumkehrung würde die Machtstrukturen des Gedichts komplett aufbrechen und der stummen, instrumentalisierten Puppe eine eigene Stimme geben. Die Emanzipation des Objekts würde mehrere Dinge leisten: Die Puppe erhielte Agency und würde vom stummen Objekt zum sprechenden Subjekt, sie könnte die Projektion zurückweisen und die wahren Machtverhältnisse benennen, der ursprüngliche Täter-Opfer-Mechanismus würde entlarvt und die Puppe könnte ihre eigene Beschädigung thematisieren, statt fremde Schuld zu tragen.
Dieser Ansatz wäre eine sehr zeitgemäße, fast postkoloniale Lesart, in der das zum Schweigen gebrachte Objekt seine Stimme gegen die erhebt, die es für ihre psychologischen Bedürfnisse missbrauchen. Ein solches Antwortgedicht aus der Perspektive der Puppe würde sie von der Projektionsfläche zur Kritikerin ihrer eigenen Instrumentalisierung werden lassen und damit eine machtvolle literarische Intervention darstellen.
KLARSTELLUNG veröffentlicht in:
Jürgen Völkert-Marten – UNSER FORTGESETZTER WUNSCH NACH OPTIMUSMUS
Tentamen-Drucke Bad Cannstatt – Kleine Handbibliothek – Heft 3
ISBN 3-921625-09-2
1977
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