Gioconda Belli - Maurische Legende

Gioconda Bellis Maurenlegende. Moderne Version

Ich sehe von fern das Land, das ich verließ. Ich beweine als Frau, was ich als Mann nicht zu verteidigen wusste.

Die historische Vorlage: Der Seufzer des Mauren

Dieses kurze, aber kraftvolle Gedicht von Gioconda Belli nimmt Bezug auf eine der bekanntesten Erzählungen der spanischen Geschichte: die Legende vom „Seufzer des Mauren“ (el suspiro del moro). Die ursprüngliche Überlieferung erzählt von Boabdil, dem letzten maurischen König von Granada, der 1492 beim Verlassen seiner eroberten Stadt zu weinen begann. An jener Stelle, heute „Suspiro del Moro“ genannt, soll seine Mutter Aixa la Horra ihn getadelt haben: „Weine nicht wie eine Frau um das, was du nicht wie ein Mann zu verteidigen wusstest.“

Jenseits der Legende: Die historische Aixa und die Frauen Granadas

Die historische Aixa war jedoch weit mehr als die unerbittliche Mutterstimme der Legende. Als Frau aus dem Nasriden-Geschlecht spielte sie eine zentrale Rolle in den Machtkämpfen am Hof, setzte ihren Sohn gegen seinen Vater durch und führte politische Intrigen. Dass in der Erinnerung nur jener eine tadelnde Satz überlebte, zeigt bereits, wie stark die Geschichtsschreibung weibliche Handlungsmacht zur Pointe reduziert hat. Auch andere Frauen im Granada des 15. Jahrhunderts beteiligten sich aktiv an der Verteidigung während Belagerungen und bewahrten nach der Kapitulation durch die Weitergabe von Sprache, Religion und Bräuchen das kulturelle Erbe.

Bellis poetische Umkehrung: Vom Tadel zur Würde

Belli dreht diese jahrhundertelang tradierte Geschlechterordnung in ihrer „Modernen Version“ um. Das lyrische Ich spricht als Frau, die sich zu ihren Tränen bekennt – „Ich beweine als Frau“ – und damit eine Würde beansprucht, die in der ursprünglichen Legende verweigert wurde. Gleichzeitig verschränkt die Dichterin die Rollen: „was ich als Mann nicht zu verteidigen wusste“ übernimmt die männlich konnotierte Dimension der Verantwortung.

Eine Gegenerzählung?

Die nicaraguanische Autorin und ehemalige Sandinistin öffnet einen poetischen Zwischenraum, in dem sich die tradierte Zuschreibung von Stärke (Mann) und Schwäche (Frau) auflöst. Sie ersetzt die Härte der legendären Aixa durch die Würde der Trauer und zeigt, dass Weinen nicht Schwäche bedeutet, sondern eine Form von Stärke und Verantwortung. Indem sie die Legende neu schreibt, gibt Belli zugleich den marginalisierten Frauen von Granada ihre Stimme zurück und schafft eine poetische Gegenerzählung, die sowohl als feministischer Kommentar zur Überlieferung als auch als Meditation über Exil und Verlust funktioniert.


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