Rachel Cusks „Outline“ (2014, dt. „Outline – Von der Freiheit, ich zu sagen“) markiert einen radikalen Neuanfang in ihrem Werk. Nach zwei autobiografischen Büchern über Scheidung und Mutterschaft, die ihr heftige Kritik einbrachten, entwickelt die britische Autorin (*1967) eine völlig neue Erzählform: Sie lässt ihre Ich-Erzählerin beinahe verschwinden.
Eine Erzählerin ohne Geschichte
Eine namenlose Schriftstellerin fliegt nach Athen, um einen Sommerkurs zu unterrichten. Während der Reise und in den Tagen danach führt sie Gespräche – mit ihrem Sitznachbarn im Flugzeug, mit Kollegen, Studenten, einem Babysitter. Sie selbst sagt kaum etwas über sich. Stattdessen hört sie zu, stellt Fragen, gibt den anderen Raum, ihre Geschichten zu erzählen.
Das klingt passiv, ist es aber nicht. Cusk erschafft eine Erzählerin, die durch ihre scheinbare Abwesenheit präsent wird – wie eine Umrisslinie (outline), die erst durch das Negative sichtbar wird. „Ich wollte eine Form finden“, schreibt Cusk, „in der das Ich nicht im Mittelpunkt steht, sondern die Zwischenräume zwischen Menschen.“
Die Macht des Zuhörens
Die Gespräche in „Outline“ sind keine Nebensache – sie sind der Kern des Buches. Ein geschiedener Mann erzählt stundenlang von seinen gescheiterten Ehen. Eine Nachbarin berichtet von ihrer lärmenden Nachbarschaft und den Grenzen der Toleranz. Ein junger Dichter reflektiert über Erfolg und Scheitern.
Durch diese Geschichten zeichnet Cusk ein Porträt der Erzählerin, ohne dass diese jemals direkt von sich spricht. Wir erfahren, dass sie geschieden ist, Kinder hat, dass ihr Leben in Trümmern liegt – aber all das nur indirekt, durch das, was sie auslässt, durch die Art, wie sie zuhört.
Diese Technik hat Cusk von klassischen Vorbildern übernommen: „Ich dachte an die platonischen Dialoge“, sagt sie in Interviews, „an Sokrates, der durch Fragen die Wahrheit freilegt.“ Aber auch an modernere Texte wie W.G. Sebalds „Die Ringe des Saturn“, wo der Erzähler ebenfalls mehr Wanderer als Held ist.
Schreiben nach der Krise
„Outline“ entstand aus einer existenziellen Notwendigkeit. Nach ihrer Scheidung hatte Cusk zwei Memoirs veröffentlicht – „A Life’s Work“ (über Mutterschaft) und „Aftermath“ (über die Scheidung). Beide Bücher waren schonungslos ehrlich und provozierten teils hasserfüllte Reaktionen. Kritiker warfen ihr vor, zu persönlich zu sein, ihre Kinder zu instrumentalisieren, den Ex-Mann bloßzustellen.
In einem Essay für den Guardian beschreibt Cusk diese Phase: „Ich hatte das Gefühl, dass mein Ich verbraucht war, dass ich nicht mehr in der ersten Person schreiben konnte. Ich musste eine Form finden, die mich schützt und gleichzeitig die Wahrheit sagt.“
Das Ergebnis ist eine literarische Innovation: eine Autobiografie, die sich als Dialog tarnt. „Outline“ erzählt von Verlust, Neuanfang und der Frage, wie man weiterlebt, nachdem das alte Leben zusammengebrochen ist – aber ohne sentimentale Bekenntnisse, ohne Selbstmitleid.
Drei Bücher, eine Trilogie
„Outline“ ist der erste Teil einer Trilogie, gefolgt von „Transit“ (2016) und „Kudos“ (2018). In allen drei Büchern bleibt die Erzählerin dieselbe: eine Schriftstellerin, die sich durch Gespräche bewegt wie durch Räume. In „Transit“ renoviert sie ein heruntergekommenes Haus in London – eine Metapher für den Wiederaufbau des eigenen Lebens. In „Kudos“ reist sie zu Literaturfestivals und merkt, wie sie wieder sichtbar wird, ob sie will oder nicht.
Die Trilogie wurde als eine der wichtigsten literarischen Leistungen der 2010er Jahre gefeiert. Deborah Levy schrieb: „Cusk hat eine neue Sprache gefunden für die Erfahrung, eine Frau zu sein – nicht als Opfer, nicht als Heldin, sondern als Beobachterin ihrer selbst und der Welt.“
Warum Cusk und Szalay zusammengehören
Wo David Szalay seine Männer von außen porträtiert – präzise, kühl, fast entomologisch –, schafft Cusk einen Innenraum, der paradoxerweise durch Leerstellen entsteht. Beide interessieren sich für Menschen in Übergangsphasen, für Momente der Desorientierung.
Aber während Szalays Figuren oft in ihren Rollen gefangen bleiben (der gescheiterte Geschäftsmann, der alternde Casanova), zeigt Cusk die Möglichkeit, diese Rollen abzulegen. Ihre Erzählerin hat keine feste Identität mehr – und darin liegt ihre Freiheit.
In einem Interview sagte Cusk: „Das Ich ist eine Fiktion, die wir uns erzählen. Wenn diese Fiktion zusammenbricht, ist das zunächst furchtbar. Aber dann – vielleicht – kann man neu anfangen.“
Stil und Wirkung
Cusks Prosa ist kristallklar, fast schmucklos. Keine Metaphern, die sich selbst feiern, keine poetischen Ausschweifungen. Sie schreibt, als würde sie protokollieren – und gerade deshalb sind ihre Sätze von verstörender Präzision.
Ein Beispiel: „Er sagte, nach der Scheidung habe er gemerkt, dass er sein ganzes Leben lang die falsche Person gespielt hatte. Aber er wusste nicht, wer die richtige Person war.“
Dieser Satz könnte auch von Szalay stammen. Aber bei Cusk schwingt noch etwas anderes mit: die Frage, ob es überhaupt eine „richtige Person“ gibt – oder ob wir alle nur Entwürfe sind, outlines unserer selbst.
Zum Weiterlesen
Neben der Outline-Trilogie sind besonders Cusks Essays erhellend:
- „Aftermath“ (2012) – über ihre Scheidung, eines der ehrlichsten Bücher über das Ende einer Ehe
- Die Essays in „Coventry“ (2019) – über Mutterschaft, Schreiben und weibliche Autorschaft
Wer sich für Cusks literarische Technik interessiert, sollte auch Deborah Levys autobiografische Trilogie lesen („The Cost of Living“, „Real Estate“) – beide Autorinnen verbindet die Suche nach neuen Formen für weibliche Lebenserfahrung jenseits traditioneller Narrative.
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