Der Bildhauer Kurt Schumacher (1905-1942) schuf eine männliche Figur im Moment des Falls. (Im Stil des Expressionismus?) aufgerichtet und die Arme emporreißend, zeigt die Skulptur eine tiefe Wunde in Herzhöhe. Aus ihr strömt Blut, das sich wie ein stilisiertes Gewand um die Hüften legt, die Scham des nackten Körpers bedeckt und an den Beinen hinunterfließt. Diese Pose des sterbend Fallenden, verbunden mit der feingliedrigen Gestalt und dem schmalen, verlängerten Gesicht, evoziert deutlich Analogien zu den Skulpturen Wilhelm Lehmbrucks (vgl. „Der Stürmende (Getroffener)“, NG 32/61, und „Der Gestürzte“, NG 5/79), die Schumacher intensiv rezipierte. Vor diesem Hintergrund ist die Deutung seiner Bronze „Fallender“ (entstanden 1939) als eindringliches Symbol für das Kriegssterben naheliegend und wird durch seine Biographie bestätigt.

Schumacher, der sich bereits in den 1920er-Jahren in der kommunistischen Arbeiterbewegung engagierte, ging nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in den aktiven antifaschistischen Widerstand. Als Meisterschüler von Ludwig Gies teilte er sich mit Fritz Cremer ein Atelier in Berlin-Tempelhof, das auch ein wichtiger konspirativer Treffpunkt für Widerstandskämpfer wurde. Im Juli 1942 stürmte die Gestapo das Atelier, zerstörte zahlreiche seiner Werke und verhaftete den Künstler. Nur wenige Monate später, am 13. August 1942, wurde Kurt Schumacher in Plötzensee nach einem Unrechtsurteil des Volksgerichtshofes wegen angeblicher „Vorbereitung zum Hochverrat“ im Zusammenhang mit der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ ermordet. Die Skulptur „Fallender“ steht somit nicht nur für allgemeines Kriegsleid, sondern auch als stummes Zeugnis für den brutalen Terror des NS-Regimes und das Schicksal seines Schöpfers.
Hier einige Texte, die mir im Zusammenhang mit dieser Skulptur einfallen und über den Sinn des Widerstehens:
Johannes R. Becher: „Der Gefallene“ (1911)
Aus der Sammlung Der Ringende. Bechers expressionistische Verse thematisieren den physischen Zusammenbruch und die metaphysische Verlorenheit eines Sterbenden:
„Stürzend stürzt er hin
Und sein Schrei: Ich bin!
Verrinnt im Schutt.“
Die „stürzende“ Pose und das aus der Herzwunde strömende Blut korrespondieren mit Bechers Sturz-Motiv.
Beide Werke entstanden im Vorfeld von Kriegserfahrungen (Becher im Ersten, Schumacher im Zweiten Weltkrieg). Der Fall als existenzielle Grenzerfahrung.
Nelly Sachs: „Chor der Geretteten“ (1946)
Aus dem Zyklus In den Wohnungen des Todes. Sachs thematisiert das Überleben von NS-Verfolgung:
„Wir, die wir dem Tod von der Schuhsohle /
geschabt sein Leben abgetreten, /
wir, die wir weitertorkeln über Gräber […]“
Das „Blutgewand“ der Figur symbolisiert die unwäschbare Schuld des Überlebens – analog zu Sachs’ Bild der „Todesstaub“-bedeckten Körper.
Schumachers Biographie (Fluchthilfe für Rudolf Bergtel 1939) spiegelt sich im Motiv des „Geretteten“ wider.
Günter Eich: „Inventur“ (1948)
Prägnantes Lager-Gedicht der Nachkriegszeit:
„Dies ist meine Mütze, / dies ist mein Mantel, / hier mein Rasierzeug / im Beutel aus Leinen.“
Die Nacktheit der Bronze-Figur und ihre reduzierten Körperformen korrespondieren mit Eichs Minimalismus des Besitzes.
Beide Werke zeigen den Menschen auf seine physische Existenz reduziert – im Krieg (Schumacher) bzw. Gefangenschaft (Eich).
Kurt Schumachers Flugblatt „Offene Briefe an die Ostfront“ (1942)
Kein literarischer Text, aber Schlüsseldokument seines Widerstands:
„Soldaten! Euer Sterben dient nur den Profiten der Rüstungsbarone!“ (Rekonstruktion)
Direkter Biographie-Bezug: Schumacher verbreitete diese Flugblätter als Wehrmachtssoldat. Die Skulptur wird so zur visuellen Umsetzung seiner eigenen Propaganda gegen das „Kriegssterben“.
Bertolt Brecht: „Über die Bezeichnung Emigranten“ (1937)
Das Gedicht reflektiert die existenzielle Erfahrung von Verfolgung und erzwungenem Exil – ein Schicksal, das Schumacher mit vielen NS-Verfolgten teilte. Brecht dekonstruiert den Begriff „Emigrant“ als verharmlosende Lüge und betont den gewaltsamen Charakter der Vertreibung:
„Ich fand immer den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten. / […] / Sondern wir flohen. Vertrieben sind wir, Verbannte.“
Die Darstellung des „Fallenden“ als Opfer äußerer Gewalt (Blut aus der Herzwunde, gestürzte Pose) korrespondiert mit Brechts Motiv des erzwungenen Sturzes aus der Heimat.
Beide Werke entstanden im Kontext des antifaschistischen Widerstands: Schumacher als Mitglied der „Roten Kapelle“, Brecht als exilierter Regimekritiker.
Die Skulptur zeigt den körperlichen Zusammenbruch, Brechts Text den sozialen und identitären Bruch – beide thematisieren den Verlust von Autonomie.
Hannah Arendt: „We Refugees“ (1943)
Arendts Essay analysiert die kollektive Identität von Verfolgten und die psychologische Dimension des Exils. Ihr zentrales „Wir“ (»we«) betont die Gemeinschaft der Entrechteten:
„The shared experience of persecution and expulsion […] turned individuals into émigrés.“
Das Blut, das sich wie ein Gewand um die Hüften legt, symbolisiert die zwanghafte „Neueinkleidung“ durch die Opferrolle – analog zu Arendts Beschreibung der Identitätsumformung durch Verfolgung.
Schumachers Biografie (Hinrichtung 1942 in Plötzensee) steht exemplarisch für das von Arendt beschriebene Schicksal der „Displaced Persons“.
Im Kontext von Kurt Schumachers Skulptur „Fallender“ und seiner Biografie als Widerstandskämpfer lassen sich literarische Texte finden, die nicht nur das Scheitern, sondern auch die Wirkmacht und das Fortwirken des Widerstands thematisieren. Hier sind ausgewählte Beispiele, die auf Aspekte des „funktionierenden“ Widerstands Bezug nehmen – sei es durch direkte Rettung, geistiges Weiterwirken oder symbolische Unzerstörbarkeit:
Stephan Hermlin: „Die Zeit der Gemeinsamkeit“ (1945)
„Unsere Toten sind nicht verlassen. / […] / Sie stehen aufrecht in unserm Wort.“
Bezug:
Hermlin beschreibt, wie Ermordete im kollektiven Gedächtnis weiterleben. Schumachers Skulptur – trotz Zerstörung vieler Werke durch die Gestapo – wurde physisch und symbolisch bewahrt. Sie materialisiert genau dieses „aufrechte Stehen im Wort“.
Ausstellungstexte der „Points of Resistance“ (Zionskirche Berlin, 2021):
Kuratorische These:
„Kunst als Widerspruch ist kein passives Opferzeichen, sondern ein Akt des fortwährenden Protests – selbst wenn der physische Schöpfer vernichtet wurde.“
Konkrete Werke:
Manfred Peckls Installation „Netzwerk“:
Verbindet Fotos von Hingerichteten der „Roten Kapelle“ (u.a. Schumacher) mit roten Fäden – als Symbol für fortwirkende Verbindungen im Untergrund.
Kerstin Serz‘ Gemälde „1938“ (Sophie Scholl mit Blumenkranz):
Die „Blumen des Widerstands“ verweisen auf lebendige Erinnerung, die politische Instrumentalisierung überdauert. – Quelle: deeds.news
Ingeborg Drewitz: „Gestern war Heute. Hundert Jahre Gegenwart“ (1978)
„Jeder zersprungene Stein, jede gerettete Zeile war ein Sieg gegen die Vernichter.“
Bezug:
Drewitz thematisiert explizit das Überleben von Kunst im Widerstand. Schumachers „Fallender“ überdauerte die Atelierzerstörung (zumindest als Nachbildung) – wie auch seine Medaillons auf der Schleusenbrücke in Berlin.
Biografischer Beweis: Schumachers reale Widerstandserfolge
Laut den historischen Quellen 1 gelangen ihm zwei konkrete Akte des funktionierenden Widerstands:
Fluchthilfe 1939: Seine erfolgreiche Schleusung von Rudolf Bergtel aus dem KZ Aschendorf-Moor in die Schweiz.
Netzwerkbildung: Das Atelier mit Fritz Cremer diente als konspirativer Treffpunkt – hier wurden Aktionen wie die Flugblattverteilung koordiniert, die trotz Verhaftungen Informationen verbreiteten.
Sein Flugblatt „Offene Briefe an die Ostfront“ (1942) erreichte Soldaten – ein Beweis, dass seine Botschaft ankam, bevor er verhaftet wurde.
Sinn stiftender Widerstand mit langfristiger Wirkung
Widerstand „funktioniert“ nicht nur durch direkten Sturz des Regimes, sondern auch durch:
Rettung Einzelner (Bergtel),
Weitergeben von Ideen (Flugblätter),
Künstlerisches Überdauern (Skulpturen, Gemälde),
Symbolische Wiederaneignung (Gedenkstätten, Ausstellungen in der Zionskirche).
Die Skulptur „Fallender“ selbst ist paradoxer Beweis: Zwar ermordeten die Nazis Schumacher, aber sein Werk überlebte – und wurde zum Denkmal des anhaltenden Widerstandsgeistes.
Über den Sinn des Widerstehens
Albert Camus: „Der Mensch in der Revolte“ (1951)
„Was ist ein revoltiertender Mensch? Ein Mensch, der nein sagt. […] Doch indem er verneint, verzichtet er nicht: Er ist auch ein Mensch, der ja sagt, von seinem ersten Schritt an.“
Schumachers Figur reißt die Arme empor – eine Geste des gleichzeitigen Nein (zum gewaltsamen Tod) und Ja (zum Leben). Camus beschreibt dies als Kern der Revolte: Selbst im Fall behauptet sich menschliche Würde.
Dietrich Bonhoeffer: „Ethik“ (1940–43)
„Verantwortliches Handeln ist […] das Wagnis der freien Tat, die nicht auf den Erfolg, sondern auf die Notwendigkeit der Stunde gegründet ist.“
Bonhoeffer (wie Schumacher 1945 bzw. 1942 hingerichtet) argumentiert: Widerstand ist Pflicht zur Stunde – unabhängig von Sieg oder Niederlage.
Schumachers Flugblätter waren sinnstiftende Tat, obwohl sie den Krieg nicht beendeten.
Hannah Arendt: „Über das Böse“ (1971)
„Das Gegenteil des Bösen ist nicht Tugend, sondern die Fähigkeit, selbst zu urteilen. […] Urteilen heißt: Nein sagen können.“
Der „Fallende“ ist kein passives Opfer: Sein aufgerichteter Oberkörper und die geöffneten Arme visualisieren Urteilskraft – das Nein zum NS-Regime.
Nelly Sachs: „O die Schornsteine“ (1947)
„O die Schornsteine! / Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –“
Sachs deutet Mordstätten (Schornsteine) paradox als „Freiheitswege“: Erinnerung verwandelt Vernichtung in Zeugenschaft.
Schumachers Skulptur wurde genau so zum Denkmal des Urteilens – sie überdauerte als physisches „Nein“.
Bertolt Brecht: „Schlechte Zeit für Lyrik“ (1939)
„[…] Doch ich / Ich benötig jetzt, so wie einer, der beisteuert was er hat, die Wahrheit.“
Brecht nennt Kunst in der Diktatur einen Beitrag zur Wahrheit – selbst wenn sie nur „beisteuert“, was möglich ist.
Schumachers „Fallender“ ist solch ein wahrhafter Beitrag: Er zeigt den Schmerz, ohne Heroismus.
Es gibt zahlreiche weitere Auseinandersetzungen über die Notwendigigkeit daes Widerstehens. Diese hier können nur ein Fingerzeig sein.
Schreibe einen Kommentar