Adolf Endler - Dies Sirren - Gedicht

Adolf Endlers Gedicht „Dies Sirren“

Adolf Endlers Gedicht „Dies Sirren“ aus dem Jahr 1971 wirkt auf den ersten Blick wie ein surrealistisches Rätsel. Doch hinter der grotesken Szenerie dieser nur vier Zeilen verbirgt sich eine vielschichtige Auseinandersetzung mit historischen Traumata und politischer Ohnmacht. Basierend auf biografischen und literaturkritischen Quellen, bietet es Einblicke in ein rätselhaftes Meisterwerk, das zu den Schlüsseltexten der DDR-Literatur zählt und sogar als Titelgeber des 2010 bei Wallstein erschienenen Gesprächsbandes „Dies Sirren“, herausgegeben von Renatus Deckert, diente.

Die düstere Klangwelt

Das Gedicht beginnt mit der Zeile „Und wieder dies Sirren am Abend. Es gilt ihnen scheint es für Singen / Ich boxe den Fensterladen auf und rufe He laßt mich nicht raten“. Das Sirren – Leitmotiv und akustischer Albtraum – entpuppt sich als tief verwurzelte Kriegserinnerung. Wie Katja Lange-Müller in ihrer Analyse betont, verarbeitet Endler hier seine Kindheit im bombardierten Rheinland. Das „Sirren der Bombergeschwader“ wird zur Chiffre für unauslöschliche Gewalterfahrung. Die Ironie, dass dieses Geräusch für die Verursacher („ihnen“) wie „Singen“ klingt, entlarvt die Pervertierung von Propaganda. Die heftige Geste des Aufboxens spiegelt Endlers poetischen Widerstandsakt wider – ein Aufbegehren gegen das Schweigen.

Die grotesken Akteure

Die zweite Zeile, „Ihr seid es Liliputaner das greise Zwergenpaar van der Klompen“, führt die grotesken Akteure ein: die Liliputaner van der Klompen. Diese Bezeichnung, wobei „Klompen“ niederländisch für Holzschuhe steht, sind mehr als bizarre Fantasiefiguren. Sie symbolisieren auf vielschichtige Weise die entmachtete Macht, indem sie als „greises Zwergenpaar“ die DDR-Stasi oder die „SED-Gerontokratie“ karikieren – Walter Ulbricht war 1971, als das Gedicht entstand, 77 Jahre alt. Zugleich spiegeln sie Endlers eigene Isolation wider; die aus Belgien stammende Mutter des Autors wurde von den Nazis verfolgt, was seine lebenslange Distanz zu autoritären Systemen prägte. Endler selbst nannte seinen Stil eine „phantasmagorische, schwarzhumorige Verdrehtheit“ – eine Ästhetik des Unterlaufens und surrealistischer Rebellion.

Die Kernfrage

Die letzte Zeile des Gedichts, „Cui bono ihr lieben Alterchen mit der Zirpstimm im Dunkel cui bono“, stellt die existenzielle Anklage dar. Das lateinische „Cui bono?“ („Wem nützt es?“) wird zum Ausdruck von Endlers Verzweiflung. 1971 stand er unter massivem Druck: nach der Lyrikdebatte in Sinn und Form und vor seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband (1979). Er fragt eindringlich, wem das „Singen“ der Staatsdoktrin nützt, wem das Schweigen der „Zirpstimm im Dunkel“ dient und wem die sinnentleerte Bürokratie des „real existierenden Sozialismus“ wirklich zugutekommt. Die scheinbar ironische Anrede „liebe Alterchen“ unterstreicht die Bitterkeit dieser Systemkritik.

Biografischer Schlüssel und poetologische Bedeutung

Endlers rheinische Herkunft, geboren 1930 in Düsseldorf, und seine Übersiedlung in die DDR 1955 prägten das Gedicht maßgeblich. Das Sirren kehrte in seinem Spätwerk wieder, als er unter Tinnitus litt, beschrieben mit den Worten: „Es ist so ein Sirren, mal höher, mal tiefer, mal lauter, mal leiser, aber immer da“. Sein „Boxen“ gegen Fensterläden entspricht seiner realen Haltung: Als Mentor der Prenzlauer-Berg-Dichter förderte er nonkonforme Kunst, während offizielle Publikationsmöglichkeiten versiegten.

„Dies Sirren“ gilt als „Sandkorn der Endler’schen Poetik“ – ein Werk, das seine Methode kondensiert. Es zeichnet sich durch barocke Allegorik aus, indem Endler, wie Peter Geist zeigt, Gewaltbilder („abgeschnittene Zungen“, „Messerstiche“) als moderne Trauerspiele nutzt. Die rhythmische Wucht des freien Verses mit abrupten Enjambements („Klompen / Cui bono“) imitiert das Sirren akustisch. Durch politische Phantastik, indem er Repression als Zwergentheater verfremdet, entzieht Endler sie der Vereinnahmung.

Zum Weiterlesen

Für eine tiefere Auseinandersetzung mit Adolf Endlers Werk empfiehlt sich sein Gesprächsband „Dies Sirren“ (Wallstein, 2010) sowie Katja Lange-Müllers Essay in TEXT+KRITIK 238 (2023). Das Gedicht „Das Sandkorn“ (1967) bietet zudem einen weiteren poetologischen Schlüssel zum Verständnis seiner Arbeit. „Cui bono?“ bleibt die Frage, die Endler in seinen Gedanken als diejenige bezeichnete, die jeden Staat prüft, der Kunst fürchtet – ein Nachhall, der über jedem Literaturblog stehen könnte und dessen Sirren weiter hallt.


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