Die Lyrikerin, Psychotherapeutin und Dozentin Angelica Seithe (geb. 1945 in Bad Lauterberg im Harz) verbindet in ihrem Lebenswerk zwei Welten, die auf den ersten Blick weit auseinanderliegen: die Sprache der Poesie und die Sprache der Psychotherapie. In beiden Feldern ist sie seit Jahrzehnten gleichermaßen schöpferisch tätig und schöpft aus ihrer reichen Erfahrung ein Werk, das von großer innerer Klarheit und Sensibilität geprägt ist.

Nach dem Studium der Psychologie an der Universität Münster und einer tiefenpsychologischen Ausbildung am Psychoanalytischen Institut Gießen leitete sie von 1973 bis 2010 das Berthold-Martin-Haus in Gießen, ein Wohnheim für Jugendliche und junge Erwachsene mit psychotherapeutischem Schwerpunkt. Parallel dazu baute sie ihre Tätigkeit als Psychotherapeutin mit eigener Praxis aus, in der sie sich insbesondere auf neurotische Störungen und Essstörungen spezialisierte. Seit den frühen 1980er Jahren ist sie zudem als Dozentin und Lehrtherapeutin aktiv und lehrte unter anderem an verschiedenen Instituten für Imaginative Psychotherapie.

Ihre Leidenschaft für die Lyrik entdeckte Seithe bereits in der Jugend, als sie ein Gedicht von Rainer Maria Rilke nachhaltig beeindruckte. Schreiben wurde für sie zur Konstante, auch wenn berufliche Verpflichtungen die kreative Arbeit zeitweise in den Hintergrund drängten. Nach ihrer Pensionierung intensivierte sie das literarische Schaffen. In ihren Gedichten verbindet sie Naturbeobachtungen, präzise sprachliche Verdichtung und ein feines Gespür für das Unausgesprochene. Ihre Texte sind häufig kurz, von großer Lakonie und konzentrierter Bildkraft – oft in Formen wie Haiku oder Tanka.

Zu ihren Veröffentlichungen zählen zahlreiche Gedichtbände wie Schilflichtung (1981), Wenn die Treppen aus den Fenstern steigen (1988), Über der strömenden Zeit (2009) und Regenlicht (2013). Besonders hervorzuheben ist der Band Im Schatten der Äpfel (2016), der ausgewählte Gedichte aus mehr als dreißig Jahren versammelt. Hier entfaltet sich eine Sprache, die von Abschied und Vergänglichkeit, Freude und Entdeckung erzählt – in Bildern, die zwischen Natur und innerer Erfahrung schwingen.

Die Verbindung von Psychotherapie und Lyrik ist in Seithes Werk stets präsent: Ihre poetischen Bilder wirken wie Spiegelungen seelischer Prozesse, während ihre psychologische Arbeit durch den sensiblen Umgang mit Sprache und Symbolen bereichert wird. Diese doppelte Kompetenz macht ihr Schaffen einzigartig und verleiht ihren Texten eine stille, aber eindringliche Tiefe.

Ihre lyrische Arbeit wurde vielfach gewürdigt, unter anderem mit dem Sonderpreis Lyrik beim Nordhessischen Autorenpreis (2009), dem Jurypreis beim Hildesheimer Lyrikwettbewerb (2012 und 2014) sowie dem 1. Preis beim Literaturpreis Harz (2018). Gedichte von ihr erschienen in bekannten Literaturzeitschriften wie Am Erker, Das Gedicht, Sinn und Form, Signum sowie in Anthologien und im Rundfunk.

Angelica Seithes Texte sind leise und zugleich kraftvoll: Poesie aus dem Inneren, die ohne Pathos auskommt und in der Sprache Räume der Stille eröffnet. In ihrer Lyrik wie auch in ihrer therapeutischen Tätigkeit geht es ihr stets darum, innere Landschaften sichtbar zu machen – als Einladung, dem eigenen Erleben in all seiner Tiefe zu begegnen.

Bibliografie (Auszug)
2025        Herbstlichtung
2020        Solange wir bleiben im Licht. Neue Gedichte
2016        Im Schatten der Äpfel. Ausgewählte Gedichte
2013        Berührungen. Kurzgeschichten
2013        Regenlicht. Gedichte
2009       Über der strömenden Zeit. Gedichte
2005       Brombeerhimmel. Gedichte
1997        Manchmal rote Dächer. Gedichte und Erzählungen
1993        Licht bei geschlossenen Augen. Gedichte
1992        inner courtyards / innenhöfe
1990       Wenn die Treppen aus den Fenstern steigen. Gedichte (erweiterte Auflage)
1988       Wenn die Treppen aus den Fenstern steigen. Gedichte
1981        Schilflichtung. Gedichte

Annähernd gelesen habe ich von ihr bisher: DIE ALTE FRAU (Erschienen in: WORTSCHAU 31 Menschen:Bilder)

  • Der Besucher

    Der Besucher

    Schnee knirscht unter Stiefeln Spuren ziehen sich heran Über die weiße Decke eine Linie, geradewegs zum Haus Es kommt jemand Es kommt einer heute unerwartet Er öffnet den Rucksack teilt den heißen Tee aus der Thermosflasche, das Gebäck vom Morgen Sie sitzen auf der eilends gefegten Bank vor ihrer Tür schweigen und lauschen dem fernen…

  • Angelica Seithe – DIE ALTE FRAU

    Angelica Seithe – DIE ALTE FRAU

    Annähernd gelesen | Das Gedicht „DIE ALTE FRAU“ ist schlicht gebaut: kurze, prosanahe Zeilen ohne Reim, ohne übermäßige Interpunktion. Es öffnet mit einer Feststellung: „Schnee ist gefallen“. Kälte, Jahreszeit, eine weiße Welt. Gleich darauf die Zeitbewegung: „Schon wird es Nacht“. Eine weiße Decke liegt unberührt da, ohne jede Spur, „nicht Vogel nicht Katze“. Die doppelte…

  • Angelica Seithe

    Angelica Seithe

    Die Lyrikerin, Psychotherapeutin und Dozentin Angelica Seithe (geb. 1945 in Bad Lauterberg im Harz) verbindet in ihrem Lebenswerk zwei Welten, die auf den ersten Blick weit auseinanderliegen: die Sprache der Poesie und die Sprache der Psychotherapie. In beiden Feldern ist sie seit Jahrzehnten gleichermaßen schöpferisch tätig und schöpft aus ihrer reichen Erfahrung ein Werk, das…


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

error: Content is protected !!